„Appelle an den Verstand haben keine Wirkung“

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Gerhard Roth, 77, hat an der Bremer Universität das Institut für Hirnforschung geleitet. Er vertritt die These, dass menschliches Handeln größtenteils angetrieben ist von Genen sowie vorgeburtlichen und frühkindlichen Ereignissen.

Interview Dieter Sell (epd)

taz: Herr Roth, wir sind seit Monaten aufgefordert, die Regeln zum Infektionsschutz einzuhalten. Stumpft Routine ab?

Gerhard Roth: Ich sehe drei Typen. Die einen bleiben bei der Stange, andere werden immer panischer, weil sie die Unsicherheit nicht ertragen und die Risiken nicht kennen. Und die Dritten stumpfen ab. Hier sind es besonders diejenigen, die am Anfang erregt waren, die Erlebnishungrigen, die gedacht haben, jetzt ist was los, das macht sogar Spaß. Aber dann wird das langweilig und nach kurzer Zeit macht man genau das Gegenteil von dem, was eigentlich gefordert ist, weil der Kick fehlt.

Was passiert bei so einem Kick im Hirn erlebnishungriger Menschen?

Da wird ein Gemisch ausgeschüttet aus dem Aufregungsstoff Dopamin und hirneigenen Belohnungsstoffen, den sogenannten Opioiden. Das bewirkt, dass man sich aufregt, diese Aufregung aber gleichzeitig als sehr positiv empfunden wird.

Wie lassen sich möglichst viele Menschen davon überzeugen, die Regeln einzuhalten?

Die meisten Menschen sind leicht bei der Stange zu halten, 80 Prozent brauchen gelegentlich nur eine kurze Auffrischung. Und die Überängstlichen, das sind vielleicht zehn Prozent, schaden der Sache ja nicht. Wirklich gefährlich sind die letzten zehn Prozent, die den Kick suchen und auch dann protestieren, wenn der Staat nichts machen würde. Denn diesen Menschen geht es ja gar nicht um Inhalte.

Wie soll man die überzeugen?

Die kann man zum größten Teil nur abschrecken. Aber wiederum zehn Prozent aus dieser Gruppe beeindruckt gar nichts. Da ist nur Staatsmacht und Polizeiauftritt wirksam, wenn überhaupt. Damit müssen wir bedauerlicherweise leben.

Wirken aus Ihrer Sicht Kampagnen wie die AHA-Plakate: Abstand, Hygiene und Alltagsmaske?

AHA ist eigentlich viel zu intellektuell, denn die Formel muss ich entziffern. Man darf die psychisch-emotionale Schlichtheit dieser Denkvorgänge nicht unterbewerten. Man muss ganz klar kommunizieren, eher in einem warnenden Ton: Leute, einen zweiten Lockdown können wir uns nicht leisten. Ganz einfach gesagt: Reine Appelle an Verstand und Einsicht haben überhaupt keine Wirkung. Das ist eine hirnphysiologische Tatsache. Die Zentren nämlich, in denen unser Verstand arbeitet, haben gar keine intensiven Verbindungen zu den Bereichen, die unsere Gefühle bestimmen und unser Handeln steuern. Umgekehrt wäre es schon so, dass die Gefühle unser Denken in den Griff bekommen und etwa Panik auslösen können. Aber der Weg von der Ratio runter auf die Gefühle und auf das Handeln, das ist ziemlich unwirksam. Wer eine nachhaltige Reaktion auslösen will, muss also immer auch Emotionales zufüttern. Bei den Einsichtigen muss das nicht der emotionale Vorschlaghammer sein, aber bei anderen schon. Da geht es nur mit Drohungen, Angst und Schrecken.

Wirken moralische Appelle?

Aufrufe im Sinne von Immanuel Kants Appell, dass du das Sittengesetz als eine für den vernunftbegabten Menschen einsichtige und verpflichtende Ordnung beachten sollst, die wirken nicht. Moralische Appelle funktionieren nur, wenn sie mit der Drohung der Ausgrenzung verbunden sind. Denn diese gehören zu den wirksamsten Drohungen, die es gibt. Wenn Menschen sagen, so ein Verhalten ist unerwünscht, und wenn ihr das tut, gehört ihr nicht mehr dazu, dann schadet ihr der Gesellschaft und insbesondere euren Eltern und Großeltern und letztlich euch selbst – das fürchten die allermeisten Leute. Das wirkt. Jedenfalls mehr als die Erklärung, aus medizinischen Gründen müsst ihr Abstand halten.