Appell von Shoah-Überlebenden vor Wahl: „Gebt eure Stimme für die Zukunft“
Für Demokratie, gegen Rechtsextremismus und die AfD: Holocaust-Überlebende appellieren an EU-Bürger, zur Wahl zu gehen. Ihre Botschaft ist deutlich.
Sie alle eint eine besondere Geschichte, die selten geworden ist. Es sind Überlebende des Holocaust, die dazu aufrufen, der AfD entgegenzutreten. „Als die Rechten das letzte Mal an die Macht kamen, waren wir noch Jugendliche, teilweise Kinder“, heißt es in dem Brief an die Erstwählerinnen und Erstwähler. Die neuen Machthaber hätten damals versprochen, das Land wieder groß zu machen und dass die Deutschen zuerst kämen. Die Rechten seien auf demokratischem Wege an die Macht gelangt. Zu viele hätten sie unterschätzt. „Wir konnten es damals nicht verhindern. Aber ihr könnt es heute“, appellieren die Unterzeichner an junge Wähler in Deutschland.
Eva Umlauf ist zu jung, um die NS-Machtübernahme 1933 hätte verhindern zu können. Sie wurde erst 1942 geboren – in einem slowakischen Arbeitslager. Sie erzählt: „Im Alter von zwei Jahren wurde ich nach Auschwitz deportiert, mit dem letzten Transport am 3. November 1944. Drei Tage vorher waren die Vergasungen eingestellt worden. Wir kamen zu spät, weil die Lokomotive unseres Zugs kaputtgegangen war.“
Journalisten sind normalerweise keine ganz leise Meute, schon gar nicht 50 in einem Saal. Doch während die 81-Jährige Umlauf spricht, ist es still geworden im Raum eins der Bundespressekonferenz.
„Wollen nicht nochmal den selben Fehler machen“
Man habe den Neuankömmlingen die Haare rasiert und ihnen eine Häftlingsnummer in die Haut tätowiert, berichtet Umlauf weiter. Die Nummer sei im Lauf ihres Lebens immer größer geworden, weil auch sie gewachsen ist. Ihr Vater wurde von Auschwitz nach Mauthausen weiterverschleppt und starb in einem Nebenlager in Melk. Ihre Mutter und sie aber überlebten in Auschwitz, befreit von der Roten Armee. Umlaufs Schwester kam dort kurz nach der Befreiung in der zur Krankenbaracke umfunktionierten Baracke Nummer 16 zur Welt.
Eva Umlauf will Stimmengewinne der AfD unbedingt verhindern. „Wir reden über unsere Schicksale, damit diese Partei nicht so viele Stimmen erhält“, sagt sie. Das tun auch Ruth Winkelmann, der aus Frankfurt zugeschaltete Leon Weintraub und Walter Frankenstein, dessen Botschaft einige Tage zuvor in Stockholm auf Video aufgenommen wurde.
Ihre Geschichten ähneln sich nicht, doch sie alle sind Folge einer Reichstagswahl vom 6. November 1932, bei der die NSDAP 33,1 Prozent der Stimmen erhielt. Es war diese Wahl, die, zusammen mit willigen Unterstützern der Nazis im rechtskonservativen Raum, den Weg zur Diktatur eröffnete.
„Wir wollen nicht wieder eine Diktatur haben. Wir wollen nicht wieder denselben Fehler machen“, sagt der 99-Jährige Walter Frankenstein. „Ich hoffe, dass so viele wie möglich diese Demokratie auf ihrem Wahlzettel bestätigen“, fordert er. Das wäre für ihn auch eine Art Geburtstagsgeschenk. Frankenstein, der die NS-Zeit als Jude versteckt in Berlin überlebt hat, wird Ende des Monats 100 Jahre alt.
Hochachtung für die Überlebenden
Es mag schon sein, dass zwischen NSDAP und AfD bei dieser Pressekonferenz etwas zu wenig differenziert wird. Aber dafür ist die Botschaft umso deutlicher. „Frei kann man nur in einer Demokratie sein. Darum gehe ich zur Wahl“, sagt die 95-Jährige Ruth Winkelmann. Das Mädchen mit einem jüdischen Vater und einer christlichen Mutter galt den Nazis als „Geltungsjüdin“, weil sie Mitglied der Jüdischen Gemeinde war. Nur mit Glück entkam die Berlinerin ihrer Deportation. Sie überlebte den Holocaust versteckt in einer Gartenlaube.
„Gebt eure Stimme für die Zukunft, den Frieden, die Demokratie“, sagt der 1926 geborene Leon Weintraub. Er spricht bis heute als Zeitzeuge vor Schülerinnen und Schülern. Er nennt die AfD zwar nicht beim Namen, aber er sagt: „Lasst die bösen Menschen nicht zur Macht kommen. Stimmt für Demokratie, damit so etwas nie wieder vorkommt.“ Denn Leon Weintraub weiß, wovon er spricht. Er wuchs ab 1940 im jüdischen Getto von Lodz auf und wurde bei dessen Auflösung 1944 nach Auschwitz deportiert. „Tag und Nacht schwarzer Rauch und der Geruch nach verbranntem Fleisch“, so erinnert er sich an die Öfen, in denen die Menschen verbrannt wurden. Weintraub überlebte Auschwitz und die Konzentrationslager Groß Rosen, Flossenbürg und Natzweiler.
Nach gut einer Stunde endet die Veranstaltung mit den hochbetagten Zeitzeugen in Berlin. Und dann geschieht im Raum eins im Haus der Bundespressekonferenz etwas ganz Seltenes, etwas, was eigentlich der Neutralität und Distanz von Berichterstattern widerspricht: Die Journalisten und Journalistinnen applaudieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist