Anwohnerproteste gegen Neubauten: Not in my backyard
Alle möchten in den Metropolen leben – aber kaum einer will dort Neubau in der Nachbarschaft. Das kann nicht funktionieren.
W eniger als 45 Quadratmeter galten im Wohnungsbau der späten 20er-Jahre als ausreichend für eine vierköpfige Arbeiterfamilie. Die Enge spürt man, wenn man heute Wohncontainer für Flüchtlinge in Berlin besucht. Knapp 40 Quadratmeter für eine Familie sind dort üblich. Die Container gelten als Notlösung, viele Geflüchtete wohnen dort aber lange, denn es gibt zu wenig sozialen Neubau in der Hauptstadt.
Wer muss wie eng wohnen? Das ist die soziale Frage. Der Kampf um den Raum betrifft dabei nicht nur Wohnungsgrößen, sondern auch Freiflächen in der Nachbarschaft, da AnwohnerInnen oft nicht wollen, dass diese bebaut werden. Der Widerstand gegen Nachverdichtungen wird heftiger, denn der Zuzug in die Metropolen wächst, während Freiflächen schwinden.
„Leider gibt es vielerorts das „Not in my backyard“(„Nimby“)-Phänomen. Die Menschen sind zwar im Prinzip für mehr bezahlbaren Wohnungsbau – aber eben nicht vor ihrer Haustür“, beklagt Axel Gedaschko, Präsident des Bundesverbandes deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen (GdW). „Die zunehmende Totalverhinderung ist ein Problem“, sagt er.
Das „Großstadt-Paradox“
Menschen geben echte oder vermeintliche territoriale Besitzstände nur ungern auf, ob es sich um den Kiez oder die eigene Wohnung handelt. In Berlin etwa existiert seit einem halben Jahr eine Onlinetauschbörse der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften. Wer nach dem Tod des Partners oder dem Auszug der Kinder in einer zu großen, vielleicht auch zu teuren Wohnung lebt, kann mit Leuten in zu kleinen Wohnungen tauschen. Die Quadratmetermieten der Tauschwohnungen erhöhen sich durch einen Umzug nicht.
Die bisherige Bilanz: „Im ersten halben Jahr wurden bislang rund 20 Wohnungen getauscht, bei insgesamt 300.000 Wohnungen der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften“ sagt David Eberhart, Sprecher des Dachverbandes BBU. Es gibt viel zu wenige Menschen, die sich verkleinern wollen.
Denn Metropolenbewohner unterliegen einem „Großstadtparadox“: Man zieht in die Großstadt auch wegen der vielen Menschen dort. Man will Vitalität saugen aus der Vielfalt, der Freiheit, der Toleranz. Einerseits. Andererseits aber ist gerade in den Metropolen die Sehnsucht nach privaten Rückzugsräumen groß, nach einem überschaubaren Kiez, nach Grün, Sonne und Licht. Also im Grunde nach weniger Häusern, weniger Menschen.
Das Großstadtparadox befeuert die Anwohnerproteste, wenn große Wohnanlagen, Wohnblocks, Aufstockungen geplant werden. Man kämpft mit allen Argumenten dagegen, ob in Berlin im Prenzlauer Berg in der Michelangelostraße, in München im Randbezirk Trudering, in Bremen am Rennbahngelände.
Edle und weniger edle Gegenargumente
Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) hat mehrere Argumentationsmuster in den Protesten identifiziert.
Ganz oben auf der Liste stehen die „Beeinträchtigungsargumente“ der AnwohnerInnen. Für sie bedeutet der Neubau weniger Weitblick, weniger Sonne und Licht, weniger Grün, weniger Parkplätze, mehr Verkehr. Lehnen die Anwohner dann auch noch die Nachbarschaft ärmerer Menschen durch den sozialen Wohnungsneubau ab, wirkt der „Nimby“(„Not in my backyard“)-Protestler erst recht egoistisch und asozial.
Neben der „Nimby“-Argumentation gibt es allgemeine ökologische Argumente, die mehr im grünen Allgemeininteresse liegen und auch egoistischen Eigeninteressen einen gesellschaftlichen Anstrich geben. Es sind „Stellvertreterargumente“, so die BBSR-Forscher, mit denen dann etwa generell gegen den zunehmenden Verkehr, den Verlust an Grün, an Tier- und Pflanzenarten, gegen die Versiegelung der Flächen protestiert wird.
Hinzu kommen „kapitalismuskritische Grundsatzargumente“, da beispielsweise in Berlin viele der Neubauwohnungen Eigentumswohnungen sind und nur von einer dünnen, finanzstarken Schicht bezahlt werden können.
Die Argumentationsmuster gibt es in allen Kombinationen und jede hat ihre Berechtigung. Auch der egoistischste „Nimby“ hat ein Recht darauf, den Verlust von Freiflächen oder von Sonnenlicht zu betrauern.
Die Frage, ob die Feldlerche mitten in Berlin ein so riesiges geschütztes Areal auf dem Tempelhofer Feld braucht, kann man sicher auch unterschiedlich beantworten. Zudem stimmt es, dass durch den Neubau in Berlin, der meist nur einer sehr finanzstarken Schicht dient, potentielle Flächen für einen mietpreisgebundenen Wohnungsbau ein für alle Mal verloren gehen.
Geförderter Wohnungsbau mildert Widerstand
Aber es gibt besonders heikle Konfliktlinien. Wie politisch korrekt ist es, wenn KleingärtnerInnen auf ihrem billig gepachteten Grün in Innenstadtlagen, etwa in Berlin-Tempelhof, beharren und sogar Ersatzkleingärten in Randlagen ablehnen, obwohl auf ihren Parzellen Hunderte von bezahlbaren Wohnungen entstehen könnten? Wer für wen welche Opfer bringen soll, das ist die soziale Frage.
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) kündigte an, dass Baumaßnahmen „Schmerzen auslösen“. In seiner Nachbarschaft in Berlin-Neu-Tempelhof wurden in einem Mietshaus in einer Seitenwand sogar Fenster zugemauert, damit angrenzend daran auf einer Freifläche ein Neubau hochgezogen werden kann. Solche Opfer können nur akzeptiert werden, wenn am Ende auch von Normalverdienern bezahlbarer Wohnraum entsteht.
Es reicht daher nicht, wenn bei Neubauvorhaben der Anteil von mietpreisgebundenen Wohnungen bei 25 oder 30 Prozent liegen soll. „Gefördert“ werden muss auch die Mittelschicht, die sich Eigentumswohnungen zum Preis von 750.000 Euro nicht leisten kann.
In Berlin hat wegen der geringen Einkommen fast die Hälfte der Einwohner Anspruch auf eine Wohnung mit Mietpreisbindung. Eine Randbebauung des Tempelhofer Feldes etwa sollte daher nur mit einem mindestens hälftigen Anteil an subventionierten Wohnungen in Erwägung gezogen werden.
Nur wenn der Wohnungsneubau für breitere Schichten erschwinglich wird, kann man die Botschaft vermitteln: Wer in den Metropolen leben will, muss Platz machen können, muss vielleicht mehr Enge ertragen. Und auch die Trauer aushalten können, wenn im Kiez neue Wohnblöcke hochgezogen werden und es dadurch weniger Platz, weniger Sonne und weniger Grün gibt vor der Tür.
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