Antroposophie und das Impfen: Der Zweifel wächst trotz Wissen
Unter Anthroposoph:innen gibt es viel Skepsis gegenüber den Corona-Impfungen. Aber gilt das auch für anthroposophische Ärzt:innen?
Eine Gruppe, die in der Debatte über das Impfen besonders in den Fokus rückt, sind die anthroposophischen Ärzt:innen. Die Medizin ist neben der Pädagogik und der Landwirtschaft eines der drei Hauptgebiete, mit denen sich Anthroposoph:innen beschäftigen. In offiziellen Statements sprechen sich die jeweiligen Institutionen für die Corona-Impfung aus. Die Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte Deutschlands (GAÄD) etwa schreibt auf ihrer Webseite, sie „begrüßt die Impfmöglichkeit gegen Covid-19“.
Für die Internationale Vereinigung anthroposophischer Ärztegesellschaften und die Medizinische Sektion am Goetheanum, dem institutionellen Zentrum der Anthroposoph:innen, „ist eine Impfung gegen Sars-CoV-2 ein wichtiges Element zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie“.
Dabei fällt zunächst auf, dass hier weder zum Impfen aufgerufen wird noch genau genommen eine Impfung empfohlen wird. Auch auf Nachfrage bei der GAÄD, ob sie sich den Corona-Impfempfehlungen der Ständigen Impfkommission anschließt, wird lediglich noch einmal darauf verwiesen, dass man die Impfung gegen das Coronavirus „begrüße“.
Der Journalist Oliver Rautenberg, der sich seit vielen Jahren intensiv mit Anthroposophie auseinandersetzt und den für den Grimme-Preis nominierten Anthroposophie-Blog betreibt, hält solche Aussagen für Feigenblätter. Dem offiziellen „ja“ der anthroposophischen Mediziner:innen folge in der Regel ein „aber“.
Um diese Nuancen in der Kommunikation zu erkennen, muss man etwas weiter ausholen. Georg Soldner, stellvertretender Leiter der medizinischen Sektion am Goetheanum, schreibt in einem Beitrag aus dem März 2021 Folgendes zur Corona-Impfung: „Entscheidend ist, dass schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle sehr viel seltener werden. Diese Hoffnung ist für Geimpfte, vor allem ältere Erwachsene, zunächst begründet.“ Allerdings wisse man nicht, wie lange der Schutz anhält, so Soldner. Gegenüber mutierten Viren könne der Schutz schwächer sein. „Ökologisch gesehen übt die Impfung selbst Druck auf das Virus aus, zu mutieren.“
Mögliche Nebenwirkungen?
Dann kommt Soldner auf mögliche Nebenwirkungen zu sprechen: „Vektor- und mRNA-Impfstoffe erweisen sich als nicht so gut verträglich. Jüngere Menschen reagieren stärker auf die Impfung, mit Schmerzen, Abgeschlagenheit, Fieber“, schreibt er. Diese Impfreaktionen würden zwar im Allgemeinen nach einigen Tagen wieder verschwinden. „Wenn der Organismus allerdings schon geschwächt ist, können die Impfstoffe ihn auch nachhaltig erschüttern. Vor allem bei sehr alten, gebrechlichen Menschen raten Experten deshalb zur Vorsicht. Die Medizinische Sektion tritt dafür ein, dass man immer prüft, ob man für die Verarbeitung der Impfung ausreichend gesund ist.“
Nichts von dem, was Soldner schreibt, ist falsch, aber während er auf den Nutzen der Impfung kurz und allgemein eingeht, wird er bei den Risiken wortreich und konkret. Ins Verhältnis werden Nutzen und Risiken überhaupt nicht gestellt. „Der Subtext ist immer ein zweifelnder“, sagt der Journalist Rautenberg. „Man wisse nicht genau, ob das was bringt, man wisse nicht genau, ob das sicher ist. Und dann wird auf die individuelle Entscheidung verwiesen. Die Klientel hört diesen Unterton.“
Dennoch ist auch das Bild einer durch und durch impfskeptischen Szene, wie es in den vergangenen Wochen in einigen Medien verbreitet wurde, nicht ganz zutreffend. Es gibt anthroposophische Ärzt:innen, die es durchaus ernst meinen mit der Corona-Impfung und die dafür werben. Das anthroposophische Krankenhaus Havelhöhe hat es in der Region Berlin-Brandenburg in den vergangenen Wochen zu einiger Bekanntheit gebracht. Nicht nur weil hier jeden Tag gegen Corona geimpft wird, sondern auch weil die Organisation funktioniert. Anders als in den vom Land Berlin aufgebauten Impfzentren bekommt man in Havelhöhe auch kurzfristig einen Termin, etwa für eine Booster-Impfung.
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Der anthroposophische Arzt Christoph Holtermann hat früher im Krankenhaus Havelhöhe gearbeitet. Aktuell schreibt er an seiner Dissertation. Anfang Dezember empfängt Holtermann zu einem Gespräch im Haus der anthroposophischen Hochschulgruppe Berlin, ein Altbaugebäude im Bezirk Steglitz. Holtermann – dreifach geimpft und getestet, was man auch ruhig schreiben dürfe – fragt als Erstes, wie man das Gespräch führen wolle. Mit oder ohne Maske? Wir entscheiden uns für Abstand und gegen Maske.
„Grundsätzlich würde ich jedem zur Corona-Impfung raten“, sagt Holtermann, der sehr bedacht und überlegt spricht. „Die Impfungen sind die zentralen Instrumente, die wir haben, um mit der Pandemie umzugehen. So schlicht ist es eigentlich.“ Man könne darüber diskutieren, welchen Impfstoff man nimmt, in welcher Reihenfolge, in welcher Kombination, sagt Holtermann. „Ganz allgemein gibt es jedoch nur sehr wenige Ausnahmen, eine Impfung abzulehnen.“ Selbst eine Impfpflicht will Holtermann heute nicht mehr ausschließen. „Wenn die Impfquoten nicht höher werden, würde ich mich auch dagegen nicht grundsätzlich wehren“, sagt er.
Holtermann hat zu Beginn der Pandemie auf Facebook zahlreiche Artikel geteilt, die sich gegen die Verharmlosung des Coronavirus gewandt haben. In letzter Zeit wirbt er dort auch fürs Impfen. Warum macht er das? Hat er das Gefühl, sein Umfeld ist besonders anfällig für Coronaverharmlosung und Impfskepsis? „Ich habe das in verschiedensten Kontexten erlebt“, sagt Holtermann und macht eine Pause. „Ich habe es auch in anthroposophischen Kontexten erlebt“, sagt er dann.
Ganz konkret hat Holtermann es in einer anthroposophischen Hausarztpraxis erlebt, in der er selbst bis zum Frühjahr 2021 gearbeitet hat. Auf der Webseite der Praxis steht auch heute noch zum Teil in Großbuchstaben und mit zwei Ausrufezeichen: „ZUR INFORMATION: WIR IMPFEN NICHT GEGEN COVID-19 mit den vorhandenen Vektorimpfungen bzw. mit den neuen mRNA-Impfstoffen!!“ Das habe zu Konflikten geführt, sagt Holtermann, mehr will er dazu nicht sagen.
Auch wenn die Indizien stark sind: Zahlen, die eine niedrigere Corona-Impfquote unter Menschen, die sich selbst als Anthroposoph:innen verstehen, belegen, gibt es nicht. Auch Holtermann ist diese These zu steil. Auf die Frage, ob nicht aber gerade anthroposophische Ärzt:innen eine größere Verantwortung hätten, für das Impfen zu werben – eben weil es zumindest nicht ausgeschlossen werden kann, dass ihre Klientel impfskeptisch ist – sagt Holtermann: „Ich finde das eine gute Anregung, sich da noch deutlicher zu positionieren, und ich finde, das sollte auch getan werden.“
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