Antisemitismus und die Palästina-Frage: „Es braucht klare Prinzipien“
122 arabische Intellektuelle klagen an, dass palästinensische Stimmen zum Schweigen gebracht werden sollen. Das Schreiben im Wortlaut.
„Wir, die Unterzeichnenden, palästinensische und arabische Wissenschaftler*innen, Künstler*innen, Journalist*innen und Intellektuelle, drücken mit dieser Erklärung unsere Sicht auf die Definition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) aus und auf die Art und Weise, wie diese Definition in mehreren Ländern Europas und in Nordamerika verstanden und umgesetzt wird.
In den letzten Jahren wurde die Bekämpfung des Antisemitismus zunehmend von der israelischen Regierung und ihren Befürworter*innen instrumentalisiert, um die Anliegen der Palästinenser*innen zu delegitimieren und jene, die sich für ihre Rechte einsetzen, zum Schweigen zu bringen. Die Kritik am Antisemitismus in dieser Weise zu instrumentalisieren, birgt Gefahr, sie zu entwerten und damit zu diskreditieren und abzuschwächen.
Antisemitismus muss erkannt, benannt und bekämpft werden. Unter welchen Vorwänden auch immer sich Antisemitismus versteckt: Hass gegen Juden und Jüdinnen darf nirgendwo auf der Welt toleriert werden. Antisemitismus manifestiert sich in Generalisierungen und Vorurteilen gegenüber Juden und Jüdinnen, vorzugsweise auf Geld und Macht bezogen, aber auch in Verschwörungstheorien oder in der Leugnung des Holocausts. Wir halten die Bekämpfung derartiger Haltungen für legitim und notwendig. Die Lehren aus dem Holocaust wie auch aus anderen Genoziden der Moderne müssen fester Bestandteil in der Erziehung der nächsten Generationen gegen Hass und rassistische Vorurteile aller Art sein.
Die Bekämpfung des Antisemitismus muss aber auf klaren Prinzipien beruhen, andernfalls verfehlt sie ihren Zweck. Die „Beispiele“ aber, die von der IHRA-Definition für Antisemitismus angeführt werden, setzen Judentum mit Zionismus gleich. Diese Definition suggeriert, dass alle Juden und Jüdinnen zionistisch seien und der Staat Israel in seiner aktuellen Form die nationale Selbstbestimmung aller Juden und Jüdinnen verkörpere. Dem widersprechen wir zutiefst. Der Kampf gegen Antisemitismus sollte nicht als Manöver benutzt werden, um den Kampf gegen die Unterdrückung der Palästinenser*innen zu delegitimieren, ihnen ihre Rechte zu verweigern und ihr Land weiterhin zu besetzen. Wir sehen daher die folgenden Prinzipien als wesentlich an:
1. Der Kampf gegen Antisemitismus muss im Rahmen des internationalen Rechts und der Menschenrechte stattfinden. Er sollte fester Bestandteil im Kampf gegen alle Formen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sein, dazu gehören auch Islamophobie und Rassismus gegen Araber*innen und Palästinenser*innen. Ziel dieses Kampfes ist es, allen unterdrückten Gruppen Freiheit und Emanzipation zu garantieren. Er wird aber zur Farce, wenn damit ein repressiver und expansionistischer Staat verteidigt wird.
2. Es besteht ein großer Unterschied zwischen einer Situation, in der Juden und Jüdinnen als Minderheit von antisemitischen Regimes oder Gruppen ausgesondert, unterdrückt und getötet werden oder einer Situation, in der das Selbstbestimmungsrecht der jüdischen Bevölkerung in Palästina/Israel in Form eines ethnisch exklusiven und expansionistischen Staates durchgesetzt wird. In seiner aktuellen Form basiert der Staat Israel darauf, einen Großteil der autochthonen Bevölkerung entwurzelt zu haben – was Palästinenser*innen und Araber*innen als Nakba bezeichnen – und jene, die weiterhin auf dem Gebiet des historischen Palästina leben, entweder als Bürger*innen zweiter Klasse zu behandeln oder der Besatzung auszuliefern und ihnen so ihr Recht auf Selbstbestimmung zu verweigern.
3. Die Antisemitismusdefinition der IHRA und die damit verbundenen gesetzlichen Maßnahmen, die zahlreiche Länder verabschiedet haben, wurden vor allem gegen linke Gruppen und Menschenrechtsorganisationen angewandt, die die Rechte der Palästinenser*innen und die Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen-Kampagne (BDS) unterstützen. Dadurch wird die sehr reale Bedrohung, die für Juden und Jüdinnen von rechtsextremen weißen ethno-nationalistischen Bewegungen in Europa und den USA ausgeht, in den Hintergrund gedrängt. Der Versuch, die BDS-Kampagne als antisemitisch darzustellen, ist eine grobe Verzerrung dessen, was grundsätzlich eine legitime und gewaltfreie Kampagne für die Rechte der Palästinenser*innen ist.
4. Die IHRA-Definition, die in ihrem Statement das folgende Beispiel als antisemitisch bezeichnet, ist recht merkwürdig: „Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen“. Unberücksichtigt bleibt in dieser Aussage, dass der Staat Israel in seiner aktuellen Form nach internationalem Recht seit über einem halben Jahrhundert als Besatzungsmacht bezeichnet wird. Das wird auch selbst von den Regierungen anerkannt, die die IHRA-Definition übernommen haben. Unberücksichtigt bleibt in der Definition auch, ob dieses Recht die Schaffung einer jüdischen Mehrheit mittels ethnischer Säuberungen mit einschließt oder ob es mit den Rechten der palästinensischen Bevölkerung in Einklang gebracht werden müsste. Darüber hinaus werden in der IHRA-Definition potenziell alle nichtzionistischen Zukunftsvisionen des israelischen Staates als antisemitisch verworfen, wie etwa das Eintreten für einen binationalen oder säkular-demokratischen Staat, der alle seine Bürger*innen gleichermaßen vertrete. Wer sich aber wirklich für das Selbstbestimmungsrecht der Völker einsetzt, kann weder die Palästinenser*innen noch andere davon ausschließen.
5. Wir glauben, dass kein Recht auf Selbstbestimmung ein Recht miteinschließen sollte, eine andere Bevölkerungsgruppe zu entwurzeln und sie daran zu hindern, in ihr Land zurückzukehren noch Maßnahmen zur Herstellung demographischer Mehrheit innerhalb des Staates. Die Forderung der Palästinenser*innen auf ihr Recht in das Land zurückzukehren, aus dem sie selbst, ihre Eltern und Großeltern vertrieben worden sind, kann nicht als antisemitisch ausgelegt werden. Der Umstand, dass eine solche Forderung unter Israelis Ängste auslöst, beweist weder, dass sie ungerechtfertigt noch, dass sie antisemitisch ist. Es ist vielmehr ein Recht, das durch die Resolution 194 der Generalversammlung der Vereinten Nationen von 1948 im Völkerrecht verbrieft ist.
6. Dass jemand allein deshalb des Antisemitismus beschuldigt wird, weil er oder sie den Staat Israel in seiner aktuellen Form als rassistisch bezeichnet, ungeachtet kontinuierlicher institutioneller und konstitutioneller Diskriminierung, bedeutet dem Staat Israel volle Immunität zu gewähren. Der Staat Israel kann seine palästinensischen Mitbürger*innen ausweisen, ihnen die Staatsbürgerschaft entziehen oder ihnen das Wahlrecht verwehren und trotzdem vor dem Vorwurf des Rassismus geschützt sein. Die Definition der IHRA und ihre Instrumentalisierung verhindern jegliche Diskussion über Israel als einen Staat, der auf ethno-religiöser Diskriminierung beruht. Damit widerspricht sie einer elementaren Gerechtigkeit und grundlegenden Normen des Menschen- und Völkerrechts.
7. Wir glauben, dass Gerechtigkeit die volle Unterstützung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser*innen erfordert. Das betrifft auch die Forderung nach dem Ende der international anerkannten Besatzung ihrer Gebiete, dem Ende der Staatenlosigkeit und des Leids der palästinensischen Flüchtlinge. Die Unterdrückung palästinensischer Rechte nach der IHRA-Definition verrät eine Haltung, die jüdische Privilegien statt jüdischer Rechte in Palästina aufrechterhält und eine jüdische Vormachtstellung gegenüber Palästinenser*innen statt jüdischer Sicherheit. Wir glauben, dass menschliche Werte und Menschenrechte unteilbar sind und dass der Widerstand gegen Antisemitismus Hand in Hand gehen muss mit dem Kampf für Würde, Gleichberechtigung und Emanzipation aller unterdrückter Völker und Gruppen.“
*** Unterzeichnende (in alphabetischer Reihenfolge) ***
Samir Abdallah
Filmmaker, Paris, France
Nadia Abu El-Haj
Ann Olin Whitney Professor of Anthropology, Columbia University, USA
Lila Abu-Lughod
Joseph L. Buttenwieser Professor of Social Science, Columbia University, USA
Bashir Abu-Manneh
Reader in Postcolonial Literature, University of Kent, UK
Gilbert Achcar
Professor of Development Studies, SOAS, University of London, UK
Nadia Leila Aissaoui
Sociologist and Writer on Feminist Issues, Paris, France
Mamdouh Aker
Board of Trustees, Birzeit University, Palestine
Mohamed Alyahyai
Writer and Novelist, Oman
Suad Amiry
Writer and Architect, Ramallah, Palestine
Sinan Antoon
Associate Professor, New York University, Iraq-US
Talal Asad
Emeritus Professor of Anthropology, Graduate Center, CUNY, USA
Hanan Ashrawi
Former Professor of Comparative Literature at Birzeit University, Palestine
Aziz Al-Azmeh
University Professor Emeritus, Central European University, Vienna, Austria
Abdullah Baabood
Academic and Researcher in Gulf Studies, Oman
Nadia Al-Bagdadi
Professor of History, Central European University, Vienna, Austria
Sam Bahour
Writer, Al-Bireh/Ramallah, Palestine
Zainab Bahrani
Edith Porada Professor of Art History and Archaeology, Columbia University, USA
Rana Barakat
Assistant Professor of History, Birzeit University, Palestine
Bashir Bashir
Associate Professor of Political Theory, Open University of Israel, Raanana, State of Israel
Taysir Batniji
Artist-Painter, Gaza, Palestine and Paris, France
Tahar Benjelloun
Writer, Paris, France
Mohammed Bennis
Poet, Mohammedia, Morocco
Mohammed Berrada
Writer and Literary Critic, Rabat, Morocco
Omar Berrada
Writer and Curator, New York, USA
Amahl Bishara
Associate Professor and Chair, Department of Anthropology, Tufts University, USA
Anouar Brahem
Musician and Composer, Tunisia
Salem Brahimi
Filmmaker, Algeria-France
Aboubakr Chraïbi
Professor, Arabic Studies Department, INALCO, Paris, France
Selma Dabbagh
Writer, London, UK
Izzat Darwazeh
Professor of Communications Engineering, University College London, UK
Marwan Darweish
Associate Professor, Coventry University, UK
Beshara Doumani
Mahmoud Darwish Professor of Palestinian Studies and of History, Brown University, USA
Haidar Eid
Associate Professor of English Literature, Al-Aqsa University, Gaza, Palestine
Ziad Elmarsafy
Professor of Comparative Literature, King’s College London, UK
Noura Erakat
Assistant Professor, Africana Studies and Criminal Justice, Rutgers University, USA
Samera Esmeir
Associate Professor of Rhetoric, University of California, Berkeley, USA
Khaled Fahmy
FBA, Professor of Modern Arabic Studies, University of Cambridge, UK
Ali Fakhrou
Academic and Writer, Bahrain
Randa Farah
Associate Professor, Department of Anthropology, Western University, Canada
Leila Farsakh
Associate Professor of Political Science, University of Massachusetts Boston, USA
Khaled Furani
Associate Professor of Sociology & Anthropology, Tel-Aviv University, State of Israel
Burhan Ghalioun
Emeritus Professor of Sociology, Sorbonne 3, Paris, France
Asad Ghanem
Professor of Political Science, Haifa University, State of Israel
Honaida Ghanim
General Director of the Palestinian Forum for Israeli Studies Madar, Ramallah, Palestine
George Giacaman
Professor of Philosophy and Cultural Studies, Birzeit University, Palestine
Rita Giacaman
Professor, Institute of Community and Public Health, Birzeit University, Palestine
Amel Grami
Professor of Gender Studies, Tunisian University, Tunis
Subhi Hadidi
Literary Critic, Syria-France
Ghassan Hage
Professor of Anthropology and Social Theory, University of Melbourne, Australia
Samira Haj
Emeritus Professor of History, CSI/Graduate Center, CUNY, USA
Yassin Al-Haj Saleh
Writer, Syria
Rema Hammami
Associate Professor of Anthropology, Birzeit University, Palestine
Dyala Hamzah
Associate Professor of Arab History, Université de Montréal, Canada
Sari Hanafi
Professor of Sociology, American University of Beirut, Lebanon
Adam Hanieh
Reader in Development Studies, SOAS, University of London, UK
Kadhim Jihad Hassan,
Writer and translator, Professor at INALCO-Sorbonne, Paris, France
Nadia Hijab
Author and Human Rights Activist, London, UK
Jamil Hilal
Writer, Ramallah, Palestine
Bensalim Himmich
Academic, Novelist and Writer, Morocco
Serene Hleihleh
Cultural Activist, Jordan-Palestine
Khaled Hroub
Professor in Residence of Middle Eastern Studies, Northwestern University, Qatar
Mahmoud Hussein
Writer, Paris, France
Lakhdar Ibrahimi
Paris School of International Affairs, Institut d'Etudes Politiques, France
Annemarie Jacir
Filmmaker, Palestine
Islah Jad
Associate Professor of Political Science, Birzeit University, Palestine
Lamia Joreige
Visual Artist and Filmaker, Beirut, Lebanon
Amal Al-Jubouri
Writer, Iraq
Mudar Kassis
Associate Professor of Philosophy, Birzeit University, Palestine
Nabeel Kassis
Former Professor of Physics and Former President, Birzeit University, Palestine
Muhammad Ali Khalidi
Presidential Professor of Philosophy, CUNY Graduate Center, USA
Rashid Khalidi
Edward Said Professor of Modern Arab Studies, Columbia University, USA
Michel Khleifi
Filmmaker, Palestine-Belgium
Elias Khoury
Writer, Beirut, Lebanon
Nadim Khoury
Associate Professor of International Studies, Lillehammer University College, Norway
Rachid Koreichi
Artist-Painter, Paris, France
Adila Laïdi-Hanieh
Director General, The Palestinian Museum, Palestine
Rabah Loucini
Professor of History, Oran University, Algeria
Rabab El-Mahdi
Associate Professor of Political Science, The American University in Cairo, Egypt
Ziad Majed
Associate Professor of Middle East Studies and IR, American University of Paris, France
Jumana Manna
Artist, Berlin, Germany
Farouk Mardam Bey
Publisher, Paris, France
Mai Masri
Palestinian Filmmaker, Lebanon
Mazen Masri
Senior Lecturer in Law, City University of London, UK
Dina Matar
Reader in Political Communication and Arab Media, SOAS, University of London, UK
Hisham Matar
Writer, Professor at Barnard College, Columbia University, USA
Khaled Mattawa
Poet, William Wilhartz Professor of English Literature, University of Michigan, USA
Karma Nabulsi
Professor of Politics and IR, University of Oxford, UK
Hassan Nafaa
Emeritus Professor of Political Science, Cairo University, Egypt
Nadine Naber
Professor, Dept of Gender and Women's Studies, University of Illinois at Chicago, USA
Issam Nassar
Professor, Illinois State University, USA
Sari Nusseibeh
Emeritus Professor of Philosophy, Al-Quds University, Palestine
Najwa Al-Qattan
Emeritus Professor of History, Loyola Marymount University, USA
Omar Al-Qattan
Filmmaker, Chair of The Palestinian Museum and the A.M. Qattan Foundation, UK
Nadim N. Rouhana
Professor of International Affairs, The Fletcher School, Tufts University, USA
Ahmad Sa’adi
Professor, Haifa, State of Israel
Rasha Salti
Independent Curator, Writer, Researcher of Art and Film, Germany-Lebanon
Elias Sanbar
Writer, Paris, France
Farès Sassine
Professor of Philosophy and Literary Critic, Beirut, Lebanon
Sherene Seikaly
Associate Professor of History, University of California, Santa Barbara, USA
Samah Selim
Associate Professor, A, ME & SA Languages & Literatures, Rutgers University, USA
Leila Shahid
Writer, Beirut, Lebanon
Nadera Shalhoub-Kevorkian
Lawrence D Biele Chair in Law, Hebrew University, State of Israel
Anton Shammas
Professor of Comparative Literature, University of Michigan, Ann Arbor, USA
Yara Sharif
Senior Lecturer, Architecture and Cities, University of Westminster, UK
Hanan Al-Shaykh
Writer, London, UK
Raja Shehadeh
Lawyer and Writer, Ramallah, Palestine
Gilbert Sinoué
Writer, Paris, France
Ahdaf Soueif
Writer, Egypt-UK
Mayssoun Sukarieh
Senior Lecturer in Development Studies, King's College London, UK
Elia Suleiman
Filmmaker, Palestine-France
Nimer Sultany
Reader in Public Law, SOAS, University of London, UK
Jad Tabet
Architect and writer, Beirut, Lebanon
Jihan El-Tahri
Filmmaker, Egypt
Salim Tamari
Emeritus Professor of Sociology, Birzeit University, Palestine
Wassyla Tamzali
Writer, Contemporary Art Producer, Algeria
Fawwaz Traboulsi
Writer, Beirut Lebanon
Dominique Vidal
Historian and Journalist, Palestine-France
Haytham El-Wardany
Writer, Egypt-Germany
Said Zeedani
Emeritus Associate Professor of Philosophy, Al-Quds University, Palestine
Rafeef Ziadah
Lecturer in Comparative Politics of the Middle East, SOAS, University of London, UK
Raef Zreik
Minerva Humanities Centre, Tel-Aviv University, State of Israel
Elia Zureik
Professor Emeritus, Queen’s University, Canada
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