Antisemitismus in Deutschland: Scham und Erschütterung
Deutsche Politiker*innen gedenken ein Jahr nach dem 7. Oktober der Opfer des Hamas-Terrors. Auch hierzulande nimmt Antisemitismus zu.
Schon am Sonntag hatten zahlreiche Mitglieder der Bundesregierung erklärt, zu Israel zu stehen und sich beschämt über Antisemitismus auf deutschen Straßen gezeigt. Ganz ähnlich klangen auch die Wortmeldungen vom Montag. So sagte etwa der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, zur Rheinischen Post: „Nach dem 7. Oktober sind die Schleusen gebrochen.“ Er beklagte auch eine sich ausbreitende Gleichgültigkeit. „Bei der Bevölkerung generell macht sich allerdings eine gewisse Abstumpfung beim Thema Antisemitismus bemerkbar. Auch die sichtbare, gezeigte Solidarität mit Israel lässt nach.“
Bundesaußenministerin Annalena Barbock (Grüne) schrieb auf der Plattform X vom 7. Oktober 2023 auf hebräisch als „Zäsur für die Menschen in Israel“. Sie kündigte an: „Wir lassen nicht nach, bis alle Geiseln wieder frei und bei ihren Liebsten sind.“
Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) sagte: „Wenn Jüdinnen und Juden bei uns auf offener Straße attackiert werden, dann ist das eine beschämende Erinnerung an Bilder aus der dunkelsten Geschichte dieses Landes.“ Das mache den „Kampf gegen Antisemitismus in allen Bereichen unserer Gesellschaft umso dringlicher, auch in Kunst und Kultur.“
Wie massiv sich die Lage für Juden*Jüdinnen in Deutschland zuletzt verschlechtert hat, zeigt das Lagebild, das Zentralratspräsident Schuster vorstellte. Fast die Hälfte des befragten Führungspersonals jüdischer Gemeinden berichtete demnach von antisemitischen Vorfällen im vergangenen Jahr. Schuster sprach von „erschütternden“ Ergebnissen und einer „Explosion antisemitischer Straftaten“.
Mehrheitsgesellschaft weniger solidarisch
Über zwei Drittel der Befragten gaben an, dass sich ihr Leben seit dem 7. Oktober 2023 verändert habe. Sie berichteten vor allem von einem höheren Sicherheitsbedürfnis, mehr Sorgen, Ängsten und Misstrauen sowie der Tendenz, die Öffentlichkeit zu meiden. Während sich Gläubige teils aus dem Gemeindeleben zurückgezogen hätten, sei das Gemeinschaftsgefühl insgesamt aber gewachsen, so die Befragten. Sie zeigten sich zudem fast durchweg zufrieden mit der Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden.
Die deutsche Mehrheitsgesellschaft nehmen die Befragten indes als zunehmend unterkühlt wahr. Während bei einer ersten Befragung 2023 noch über die Hälfte der Befragten erklärte, ihre Gemeinde erfahre von der nichtjüdischen Gesellschaft Solidarität, sind es nun weniger als 40 Prozent. Schuster nannte dies den „bittersten Befund“.
Schusters Vorgängerin im Amt, die jetzige Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München Charlotte Knobloch, versuchte auf X zu vermitteln, wie sich Juden*Jüdinnen seit dem vergangenen Jahr fühlen. Sie schrieb von einem Leben „ohne Sicherheit und ohne festen Rahmen“, in dem sich Juden*Jüdinnen seit dem 7. Oktober wiederfänden. „Das Grundvertrauen, auf dem sie einst standen, haben viele verloren.“ Gesellschaft bedeutete das Zusammenleben auch mit denen, die anderer Meinung seien: „Wie dieses Zusammenleben aber aussehen soll mit denen, die unser Leben fundamental ablehnen, darauf weiß ich keine Antwort.“
Am Montagabend wollen Spitzenpolitiker*innen und religiöse Vertreter*innen bei einem interreligiösen Gottesdienst in Berlin der Opfer des 7. Oktober 2023 gedenken. Mit dabei ist neben Schuster auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD), Berlins regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) und der israelische Botschafter in Deutschland, Ron Prosor. Auch an vielen anderen Orten in Deutschland sind für den Abend Gedenkveranstaltungen geplant. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) will einer Trauerfeier in Hamburg beiwohnen.
Gleichzeitig soll es aber auch propalästinensische Aktionen geben, bei denen es in der Vergangenheit immer wieder zu antisemitischen Verfällen gekommen war. In Berlin-Neukölln ist etwa eine Demo angekündigt, die sich gegen Israels Politik richtet. Das am Jahrestag des Hamas-Terrors besonders unappetitlichen Motto: „Glory to the resistance“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Syrien nach Assad
„Feiert mit uns!“