Antiquar über Kunsthandel: „Lesen und lernen und lieben“
Heribert Tenschert ist Antiquar und sammelt und verkauft kostbarste Druckwerke. Gerade im Angebot: ein Messbuch für 680.000 Euro. Wie kam er dazu?
Ein Stand auf der Antiquariatsmesse in Stuttgart, Ende Januar. Einer der wichtigsten Orte für Menschen, die sich für sehr alte und sehr kostbare Druckerzeugnisse interessieren. Hier residiert für drei Tage Heribert Tenschert, der wohl berühmteste Antiquar Europas, wenn nicht der Welt, der die seltensten Werke zu Preisen anbietet, für die sich der Ausdruck „Schnäppchen“ eher weniger eignet.
Im Messekatalog hat Tenschert nur ein einziges Buch annonciert: ein überreich illuminiertes Messbuch ganz auf Pergament, gedruckt im Jahr 1527. Der Preis für dieses Unikat: 680.000 Euro. Aber Tenschert hat ein paar mehr Bücher mitgebracht. Der Antiquar bittet an das verglaste Regal, in dem Bücher in prachtvollen Einbänden zu bewundern sind. Tenschert stellt jedes einzelne vor.
Manche der ausgestellten Bücher besitzen noch die ursprünglichen metallenen Beschläge und Schließen, so ein Werk aus dem Jahr 1395. Ein anderes Buch ist mit Goldplatten versehen, die es 30 Kilogramm schwer machen. Heribert Tenschert kennt jedes Detail. Er weiß zu berichten, dass für das auf Pergament hergestellte Missale – die lateinische Bezeichnung für Messbuch – von 1527 eine Herde von 200 oder 300 Kälbern sterben musste, denn die Blätter des Bandes wurden aus der Haut der Tiere gewonnen.
Der Antiquar weist auf einen Inkunabeleinband von 1495 hin, gebunden zur Hälfte in Schweinsleder, er stellt ein Werk vor, das der Königsbuchbinder Gomar Estienne um 1548/49 gebunden hat, darin die erste illustrierte Vergil-Ausgabe überhaupt, erschienen 1502 in Straßburg mit 214 Holzschnitten.
Und dann gibt es noch dieses vergoldete Exemplar, hergestellt für den Landgrafen von Hessen mit 25 illuminierten Holzschnitten und datiert auf 1578 …
Es wird einem ganz wirr im Kopf ob des Goldes, der Pracht, der Schönheit, der Druckermarken, der Jahreszahlen …
Jetzt aber Schluss, schließlich haben wir nicht ewig Zeit. Heribert Tenschert, ein mittelgroßer Mann mit vollem Haar, lässt sich in einem Sessel nieder.
wochentaz: Herr Tenschert, verkaufen Sie Bücher oder eher Kunstwerke?
Heribert Tenschert: Es ist beides. Ich würde um Gottes willen das Buch als Bezeichnung bewahren wollen, aber tatsächlich bewegt es sich in Richtung von Kunstwerken.
Das Missale kostet 680.000 Euro. Wie kommt dieser Preis zustande?
Es ist weder billig noch teuer, da es sich um ein einzigartiges Stück handelt. Insofern ist dieser Preis so berechtigt wie zu niedrig wie zu hoch. Aber man muss sagen, dass ich natürlich Anhaltspunkte aus der Vergangenheit habe. Dieses Exemplar wurde 1990 für über 500.000 Schweizer Franken angeboten und verkauft. Wenn Sie bedenken, was ich nach 34 Jahren dafür verlange, dann können Sie sehen, dass das keineswegs ein überrissener Preis ist. Außerdem ist es natürlich mit den 150 von einem Meister illuminierten Illustrationen und dem Umstand, dass es von diesem Buch nur dieses eine Exemplar auf Pergament gibt, auch unter dem Aspekt der Einzigartigkeit zu sehen.
Wer kauft solche Bücher? Eher Museen oder Privatsammler?
Werke dieser Art oder teure Manuskripte habe ich meist an Privatsammler verkauft. Aber für das Missale gibt es jetzt interessanterweise sogar Interesse von einer deutschen öffentlichen Institution.
Es wird gerne diskutiert, ob es richtig ist, dass einmalige Werke in privaten Sammlungen verschwinden, anstatt sie der Öffentlichkeit in Museen präsentieren. Geht es den Sammlern um eine Kapitalanlage oder um das Werk?
Ich mache das jetzt seit 47 Jahren und kann darüber, so glaube ich, eine einigermaßen autoritative Antwort geben. Die Menschen sind wirklich an den Büchern interessiert. Es ist nicht so wie bei der zeitgenössischen Kunst, wo das meiste nur noch Gegenstand von Spekulation ist. Überhaupt nicht. Derartige Bücher kaufen Leute, die sich auf Dauer für diese Dinge begeistern. Was die Kritik daran betrifft, dass Sammlungen besser in öffentliche Einrichtungen gehören statt in private Bibliotheken: Das Gegenteil ist richtig. In den Institutionen verschwinden solche Objekte häufig und werden nie gezeigt.
Weil sie in Magazinen landen …
Genau. Das Objekt wird dann unter die Obhut von Kuratoren gebracht, für die es eine Zumutung darstellt, wenn man dergleichen Dinge ausstellt. Wenn Sie sich an Besitzer privater Bibliotheken wenden, dann gibt es in der Regel überhaupt keine Probleme, diese Objekte etwa bei Ausstellungen zugänglich zu machen. Die verbreitete Einstellung, dass solche Buchkunst in öffentliche Hand gehört, ist von Anfang bis Ende ein Irrtum.
Wo bewahren Sammler ein 500.000-Euro-Buch auf? Im Safe? Oder in einer Vitrine?
Auf ihren Regalen – Bücher werden nicht gestohlen.
Viele stellen sich solche Sammler als eher ältere Herrschaften vor. Gibt es auch Jüngere, die von solchen Unikaten begeistert sind und das nötige Geld besitzen?
Natürlich, und es werden Gott sei Dank immer mehr: Die Jüngeren beginnen zu erkennen, was die letzten 1.000 Jahre bieten, so unermesslich viel Schöneres als die Gegenwart.
Sie sind selbst nicht nur Händler, sondern auch Sammler. Sie besitzen eine der größten Stundenbuch-Sammlungen der Welt.
Der Mensch
Heribert Tenschert wurde 1947 im bayerischen Mariakirchen geboren. Ein Studium der Romanistik, Germanistik und Altphilologie in Freiburg brach er 1977 ab, um in Rotthalmünster ein Buchantiquariat zu eröffnen. Zu seinen engsten Freunden zählte der Schriftsteller Martin Walser.
Der Sammler und Händler
Tenschert gilt als einer der wichtigsten Sammler und Händler insbesondere mittelalterlicher Bücher. Seine Leidenschaft entdeckte er schon als Jugendlicher. Er besitzt die größte Sammlung mittelalterlicher Stundenbücher.
Ja, die größte Sammlung von gedruckten Stundenbüchern. Es handelt sich dabei um die am reichsten illustrierten Bücher des 15. und 16. Jahrhunderts. Das bedeutet, dass der ursprüngliche Anlass eines Andachtsbuchs hinter den Illustrationen zurücktritt. Ich habe 430 gedruckte Stundenbücher. Das ist so viel wie die Bibliothèque nationale de France und die British Library in London zusammen haben. Insgesamt hat es wohl so etwa 750 dieses Genres gegeben. Davon haben wir dann 60 Prozent.
Sie müssen erklären, was ein Stundenbuch ist.
Stundenbuch heißt das Buch deshalb, weil es als Hauptbestandteil eine bestimmte Abfolge von Gebetsstunden, die dem Tag zugeordnet werden, enthält. Der Tag ist in acht Gebetsstunden unterteilt. Das beginnt um Mitternacht mit Matutin, geht dann weiter um drei Uhr in der Frühe mit Laudes, setzt sich fort mit Prim, Terz, Sext, Non und so weiter. Also sind die 24 Stunden des Tages durch acht Gebetsanlässe unterteilt, die alle drei Stunden zu verrichten sind.
Man kommt nicht in den Tiefschlaf.
Nein. Aber natürlich hat man bestimmte Dinge dann zusammengefasst. Ein Stundenbuch enthält immer einen Kalender, Auszüge aus den vier Evangelien, es gibt sodann die so genannten Bußpsalmen, das Totenoffizium und weitere Dinge. Aus all dem entsteht im 14. Jahrhundert das Stundenbuch als Handschrift. Es wird dann im späten 15. Jahrhundert von Pariser Druckern aufgenommen und weiterentwickelt.
Sie besitzen auch eine Bibliothek mit mehreren hunderttausend Bänden. Ist es da nicht ein Widerspruch, einerseits Bücher zu sammeln und diese andererseits verkaufen zu müssen? Schlagen da zwei Herzen in Ihrer Brust? Sie haben ein wunderschönes Exemplar für Ihre Sammlung gefunden und Sie verkaufen es dennoch?
Selbstverständlich sind da zwei Herzen, die in meiner Brust schlagen. Aber ich habe das Problem auf meine Weise gelöst. Ich habe in den letzten 30 Jahren neben meinem normalen Antiquariatsgeschäft, hauptsächlich mit mittelalterlichen illuminierten Manuskripten und dergleichen, insgesamt zehn große Sammlungen aufgebaut. Die Sammlung der Stundenbücher ist also nur eine von zehn. Dazu gehört die denkwürdigste Sammlung von französischen illustrierten romantischen Büchern auf der Welt. Wir besitzen die bei Weitem größte Sammlung von französischen illustrierten Büchern des 18. Jahrhunderts, 2.500 Werke in 7.000 Bänden. Und es sind nicht nur diese 2.500 Werke, es sind die distinguiertesten Exemplare, die davon in den letzten 40, 45 Jahren auf den Markt gekommen sind. So habe ich meinen Sammeleifer einerseits gehütet und bewahrt, konnte aber trotzdem meinen Geschäften nachgehen.
Tut es dennoch immer noch ein bisschen weh, wenn Sie etwas verkaufen?
Ja. Ich habe zum Beispiel heute zwei meiner schönsten Einbände verkauft, um die es mir ein wenig leidtut, ganz abgesehen davon, dass das ein lieber, sehr guter Kunde ist, dem ich die Objekte zu meinem Einstandspreis verkauft habe.
Eine ganz einfache und zugleich schwierige Frage: Warum sammeln Sie?
Bei mir war es schon in der Kindheit so, dass ich etwas gesammelt habe. Ich glaube, dass das angeboren ist. Ich habe keine andere Erklärung. Ich kann auch nicht bestätigen, dass Männer dieses Sammel-Gen häufiger in sich tragen als Frauen. Einige meiner größten Sammler sind Sammlerinnen. Sie sind genauso begeistert, hartnäckig und scharf auf diese Bücher wie Männer.
Würden Sie sich selbst als fanatischen Sammler bezeichnen?
Bei bestimmten Gebieten würde man mein Verhalten wahrscheinlich als fanatisch bezeichnen.
Bieten Sie bei Auktionen telefonisch?
Ja, sicher. Und dort, wo es wirklich wichtig ist, kriege ich die Sachen auch. Aber an einem bestimmten Punkt muss ich nicht mehr fanatisch sammeln. Da kann ich mich zurücklehnen und nur noch auswählen, denn das meiste besitze ich ja schon. Das wenige, das noch infrage kommt, kann ich in Ruhe angehen.
Und wie ist es bei Ihren Kunden? Gibt es da welche, die so begierig sind, dass sie sofort kaufen wollen?
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Die gibt es natürlich. Ich bin dann auch gehalten, das in ruhigeres Fahrwasser zu lenken. Es gibt nichts Schlimmeres als Eifersüchteleien unter Kunden, nach dem Motto: ‚Warum hast du das dem verkauft, wo doch ich das haben wollte?‘. Man muss über fanatische Sammler aber auch froh sein, ich brauche doch meine Kundschaft.
Haben Sie schon erlebt, dass sich zwei Kunden um dasselbe Buch gestritten haben?
Auf einigen Messen habe ich das schon erlebt.
Und wie lösen Sie das Problem?
Derjenige, der mir sympathischer ist, erhält das Buch.
Viele Buchläden, vor allem aber Antiquariate befinden sich derzeit in einer schweren Krise, auch wegen der Transparenz des Internets. Manches Traditionsunternehmen mussten schon schließen. Betrifft Sie die Krise?
Nein. Zum Glück betrifft mich das nicht, weil wir – Entschuldigung, wenn ich das so sage – auf einem Niveau arbeiten, in dem das Internet überhaupt keine Rolle spielt. Ich versuche von besonders bedeutenden Büchern noch die schönsten Exemplare zu bekommen und anzubieten. Ich bemühe mich auch darum, Dinge über ein Buch herauszufinden, die vorher unbekannt waren.
Können Sie etwas zu Ihrem Umsatz sagen?
Wir haben in den Jahren vor Corona durchaus achtstellige Umsätze gemacht. Während der Pandemie 2020 bis 2022 leider nur noch etwa zehn bis zwölf Prozent davon. Aber das wird sich wieder ändern.
Sie haben 1977 in Rotthalmünster, in Bayern, als Antiquar angefangen. Wie sind Sie auf das Metier gestoßen?
Bücher habe ich immer schon gerne gehabt und immer gerne und vielfältig gelesen. Ich habe in den 1960er Jahren damit begonnen, nach Erstausgaben meines Hausgottes, des Schriftstellers Rudolf Borchardt, zu jagen. Als ich in Freiburg studierte, habe ich selbstverständlich die Antiquariate besucht und mir dort gewisse Kenntnisse angeeignet. Damals habe ich natürlich andere Bücher gesammelt als heute. Dinge, die mir erreichbar waren, wie zum Beispiel Bücher aus dem Georg-Müller- oder dem Insel-Verlag. Dann stand die Entscheidung an, ob ich meine Dissertation in der Romanistik beenden sollte. Ich habe mich dagegen entschieden. Ich beschloss, mein Leben den Büchern zu widmen. Ich bin dann nach Bayern, wo ich herkam, zurückgegangen, dorthin, wo meine Mutter und meine Großeltern damals noch lebten. 1977 habe ich Knall auf Fall entschieden, mit dem Antiquariat anzufangen.
Mit welchen Büchern?
Ich hatte mir als Student und Hilfsassistent an der Universität eine kleine Sammlung aufgebaut. Die habe ich im ersten Katalog angeboten. Der hatte einen geradezu niederschmetternden Erfolg. Das war Ermutigung genug, um weiterzumachen. Ich bin dann sehr, sehr schnell vom 20. ins 19., 18., bis hinauf ins 15. Jahrhundert gestiegen. So hat sich diese gesamte Palette entwickelt. Die Handschriften kamen 1980 hinzu.
Haben Sie, was Stundenbücher, mittelalterliche Handschriften und seltenste Werke in alten Einbänden betrifft, überhaupt noch einen Konkurrenten?
Ich kenne niemanden, der das auf diese Art und Weise macht. Es gibt natürlich ab und zu einen Händler, der ein Stundenbuch-Manuskript verkauft. Aber ich glaube schon, dass, wenn man die fünf bedeutendsten Antiquariate mit ihren entsprechenden Beständen zusammenzählt, dies etwa der Hälfte von dem entspricht, was wir anbieten können. Das sind rund 300.000 Bände. Davon sind so etwa 25.000 besondere, außergewöhnliche Bücher. Die anderen sind aber durchaus auch interessant. Und dazu kommen noch 100.000 Kataloge zwischen 1643 und 2000. Man wird schon sagen können, dass wir ein Alleinstellungsmerkmal haben.
Verfügen Sie über eine besondere Methode, wie Sie an diese Seltenheiten herankommen? Oder sind es Wissenschaft, Handwerk und eine lange Erfahrung, die dabei die größte Rolle spielen?
Die lange Erfahrung ist das Allerwichtigste. Dazu kommt das Erkenntnisinteresse. Man kann oft noch sehr viel über ein Buch herausfinden, selbst wenn die pfiffigsten Kollegen vorher schon dran waren. Ich habe erst letzthin herausgefunden, dass ein wunderbares Stundenbuch tatsächlich der englischen Königin Katharina von Aragon, der Frau von Heinrich VIII., gehört hat. Abgesehen von diesem Erkenntnisinteresse und der Erfahrung ist ein tiefergehender Sinn für Ästhetik unentbehrlich. Wenn Sie diese drei Dinge kombinieren, dann haben Sie mich.
Dennoch sei mir die Frage erlaubt: Haben Sie auch mal so richtig ins Klo gegriffen, also einen absoluten Fehlkauf getätigt?
Natürlich gibt es Käufe, nach denen man sich sagt: Das war eigentlich nicht auf meiner normalen Höhe. Aber einen richtig schlimmen Fehlkauf habe ich nie getan.
Fehlt Ihnen noch ein Buch?
Ja, die Gutenberg-Bibel. Die werde ich wahrscheinlich auch nicht mehr kriegen. Obwohl ich letzthin an dem einzigen Exemplar in privater Hand dran war.
Was war Ihr bisher bestes Geschäft?
Ich habe eine Reihe guter Geschäfte gemacht. Einmal habe ich ein Manuskript für 600.000 Euro gekauft und für das Siebenfache verkauft.
Und was machen Sie, wenn Sie keine wertvollen Bücher sammeln oder verkaufen? Bleibt noch Zeit für andere Beschäftigungen im Leben?
Ja – lesen und lernen und lieben.
Herr Tenschert, Sie sind jetzt 76 Jahre alt. Das Leben ist endlich. Was soll eines Tages aus Ihrer wunderbaren Sammlung werden?
Ja, darüber habe ich mir schon Gedanken gemacht, wobei ich der Überzeugung bin, dass ich nicht sterben werde. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass das Ganze in eine Stiftung übergeführt wird. Dort sollen die Dinge nach meinen Vorstellungen präsentiert werden – besser, anders als in einem Museum.
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