Antifa-Pop von Irie Révoltés: Allez, allez! Alerta, alerta!
Irie Révoltés haben den Antifaschismus auf die Bühne gebracht. Nach 18 Jahren ist nun Schluss – allerdings nur mit der Musik.
Jeder Protest braucht seine Musik, will er nicht zu einer Podiumsdiskussion verkommen. „Das ist unser Haus!“ grölten die Hausbesetzer in den 80er Jahren, Ton Steine Scherben machten den Sound dazu. Und für Punks war „Deutschland muss sterben!“ in eben dieser Zeit ein gerne wiederholtes anarchistisches Glaubensbekenntnis. Die Band Slime gibt es sogar noch. Und heute? Wie hört sich der rebellische Beat der Millennials an?
„Allez! Allez!“ Carlos alias Carlito ruft diese Worte immer wieder in sein Mikrofon, vor ihm erwidern gut 300 Menschen das französische „Auf geht’s!“ so laut sie können. Der zweite Tag des Révoltés-Festivals in Hannover hat begonnen. Gemeinsam mit Bruder Pablo alias Mal Élevé überrascht Carlos die Fans. Gespielt wird auf einer grünen Wiese, ein paar Meter neben den Zelten, in denen bis vor wenigen Momenten noch die Musikfans schliefen. Die „Bühne“: Zwei Quadratmeter Holzplatte auf vier Rädern, hergezogen von einem Rasenmäher. Es ist ein spontaner Auftritt, kaum mehr als Straßenmusik, so völlig anders als die Konzerte auf den großen Bühnen. Und doch: Die Menge hüpft und tanzt, singt und schreit. Allerseits leuchtende Augen.
Dann verstummt mit der Gitarre das einzige Instrument. Was ist los? Der Gitarrist kontrolliert den Verstärker, zeigt Pablo und Carlos dann aber – sichtlich genervt – an: technische Probleme. Die Gitarre bleibt still. Nach einem Moment der Verwirrung legen die Sänger die Mikrofone zur Seite und beginnen gänzlich unverstärkt das nächste Stück. Das Klatschen des Publikums ersetzt den Rhythmus der Gitarre, die Fans singen mit Irie Révoltés im Chor. Das erste Wort wohlgemerkt als „Eirie“ gesprochen, aber das weiß hier jeder. Nach nur zwei Liedern wollen die Brüder ihren Auftritt beenden, doch zwei Fans schreien aus vollem Hals: „Ich wurde so gebor’n!“, die Menge stimmt mit ein: „Ich werde so bleiben bis ich sterb’. Antifaschist für immer!“
Das entsprechende Lied stammt aus dem Jahr 2010. Seitdem wird es praktisch bei jedem Auftritt von Irie Révoltés gespielt, auf Demonstrationen gegen Rechts schallt es aus den Boxen der Lauti-Wagen. Dieses Lied hat die Band berühmt gemacht. Ebenso gilt: Irie Révoltés haben Antifaschismus auf die großen Bühnen gebracht.
Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Denn wenn die „fröhlichen Rebellen“ in diesem Jahr zu ihrer letzten Revolte blasen, werden sie in ganz Deutschland noch mal vor Tausenden Menschen spielen. Die Karten für ihre Abschiedstournee sind begehrt, in sechs Städten wird es Zusatzshows geben, in Hamburg sogar zwei. Die Band ist kommerziell erfolgreich. Mit linker Gesellschaftskritik. Wie geht das zusammen?
Nestwärme und Freiheit
Carlos atmet tief ein und streicht sich mit der Hand durch seinen rötlichen Bart. „Das ist ein ständiges Jonglieren mit Widersprüchen“, sagt er. Der Schirm seiner Snapback Cap zeigt nach vorne, ohne seinen klaren Blick zu verbergen. Carlos ist 37 Jahre alt. Pablo ist drei Jahre jünger, den Medien präsentieren sie sich stets gemeinsam.
Pablo „Mal Éléve“ Charlemoine
„Wir sind Teil des Systems. Wie alle“, beginnt Pablo. „Aber wir haben die Entscheidung getroffen, nicht nur in besetzten Häusern spielen zu wollen.“ Seine Augenbrauen geben dem Gesicht einen eindringlichen Ausdruck, Bart und Haare sind auf wenige Millimeter getrimmt. Äußerlich sind die Brüder verschieden, doch ihre Lebenswege sind untrennbar miteinander verwoben.
Die Geschichte der Band beginnt in Heidelberg, nördliches Baden-Württemberg, keine 100 Kilometer von der französischen Grenze entfernt. Hier wachsen Carlos und Pablo Charlemoine als Söhne eines französischen Vaters und einer deutschen Mutter in einer „internationalen Familie“ auf, wie sie selber sagen. Politik wird am Küchentisch diskutiert, mit den Eltern geht es schon früh auf Friedensdemonstrationen. „Das war unsere Welt“, erinnert sich Pablo. „Wir haben von unseren Eltern früh gelernt, dass man selbst etwas ändern kann.“
Die Nestwärme tauschen die Brüder recht schnell gegen mehr Freiheit ein. Kaum volljährig, aber noch Schüler, zieht es Carlos in seine erste Wohngemeinschaft. Im Alter von 17 Jahren folgt Pablo. Sie treffen eine Entscheidung: Von nun an wollen sie miteinander nur noch französisch sprechen. Die Zweisprachigkeit verbindet sie bis heute und prägt auch den Stil von Irie Révoltés.
Alles begann im AZ Heidelberg
Der ständige Wechsel zwischen Deutsch und Französisch ist an sich schon ein Bekenntnis für ein grenzenloses Weltbild. Auch abseits der Texte schafft es die Band, Gräben zu überwinden. Mal wird in Reggae-Manier verträumt die Sonne besungen, nur um im nächsten Lied mit treibender Gitarre die Geschwindigkeit zu erhöhen. Der Gesang geht immer wieder in Rap-Einlagen über, dazwischen finden sich tanzbare Rhythmen, mal elektronisch, mal von Blasinstrumenten gespielt. Es ist ein ständiger Abriss von Genregrenzen.
Der Stilmix wurzelt in den Persönlichkeiten von Carlos und Pablo. Als Teenager verbringen sie in Heidelberg viel Freizeit im Autonomen Zentrum, kurz AZ. Hier treffen Skater, Punks, Metalheads, die HipHop-Szene und noch einige andere Subkulturen aufeinander. Pablo ist Punk und Teil der Antifa, Carlos fühlt sich in der HipHop-Szene zu Hause.
1999 wird das AZ von der Stadt abgerissen – unter großem Protest der linken Szene. Irie Révoltés, just gegründet, spielen im Jahr 2000 auf einer Demonstration. Es ist erst der zweite Auftritt überhaupt. Ihr Set aus vier Liedern spielen sie gleich zweimal, anschließend wird ein Stellvertretergebäude besetzt. „Es war eine Mischung aus Frustration und Aufbruchstimmung“, beschreibt Carlos die damalige Gefühlslage. Ein neues AZ gibt es bis heute nicht. „Der Politik ist es gelungen, eine ganze Szene auszuradieren“, meint Carlos.
In ihrer 18-jährigen Bandgeschichte spielen Irie Révoltés immer wieder auf Demonstrationen oder als Unterstützung für Kulturzentren und soziale Projekte. Zuletzt eine Woche vor den G20-Protesten in der Roten Flora in Hamburg. „Die Flora ist der Stadt ein Dorn im Auge. Nach den Krawallen beim G20-Treffen versuchen manche, das Zentrum zu kriminalisieren“, sagt Pablo. Seine Band setzt sich für den Erhalt ein, man fühlt sich an die Geschichte des Heidelberger AZs erinnert, auch wenn die Flora natürlich weit mehr Beachtung findet.
Eine kleine Anekdote zeigt, was in Zentren wie der Flora passieren kann: „Vor zehn Jahren haben wir dort Viva con Agua kennen gelernt“, erinnert sich Carlos. Das Projekt aus St. Pauli setzt sich für eine bessere Versorgung mit sauberen Trinkwasser im globalen Süden ein. Irie Révoltés gehören zu den größten Unterstützern, machte die meisten Spender auf das Projekt aufmerksam. „Da sind wir ein klein wenig stolz drauf“, sagt Carlos.
Sieben Stunden später
Überhaupt: Irie Révoltés und die Projekte, das ist eine Verbindung wie Pech und Schwefel. Da wäre zum Beispiel Rollis für Afrika. Der Verein, 2003 von Pablo mit gegründet, verschifft ausrangierte Rollstühle und Gehhilfen in den Senegal. Auf dem Révoltés-Festival in Hannover sind neben Viva con Agua auch Jugend rettet vertreten, die mit einem Schiff im Mittelmeer Seenotrettung betreiben. Dazu ein Stand von „Kein Bock auf Nazis“ und allerhand Merch: Shirts, Turnbeutel und Sticker von „Schwarze Socke“ und „Mob Action“ für den antifaschistischen Konsum.
Um 21.15 Uhr, sieben Stunden nach dem Auftritt auf dem Campingplatz, steht die Band vor 4.500 Menschen. Als die Menge mit „Alerta, alerta, antifascista“ einen beliebten Schlachtruf der linksautonomen Szene anstimmt, beginnt Carlos mit einer Beatbox-Einlage, Pablo startet einen Freestyle-Rap. Die Fans jubeln, die Überraschung zündet. Kaum zu glauben, dass Carlito und Mal Élevé der Musik den Rücken zuwenden wollen.
„Wir wollen unser Baby frei lassen“, sagt Pablo. Viele Bands spielten so lange, bis es intern nur noch Streit gebe. So weit wollen es Irie Révoltés nicht kommen lassen. Bei Carlos ist ein Soloprojekt in Planung. Auch Pablo gibt zu: „Ganz ohne Musik geht es nicht.“ Er will mehr Zeit in Projekte stecken, vielleicht sogar als Seenotretter aufs Mittelmeer fahren. „Unser Kampf für eine bessere Welt wird niemals aufhören!“ schreibt die Band auf ihrer Website. Irie Révoltés, das war mehr als Musik. Es war ein politisches Projekt. Ihr Abschied wird eine Lücke hinterlassen – nicht nur auf Konzertbühnen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Gespräche in Israel über Waffenruhe
Größere Chance auf Annexion als auf Frieden
Jeder fünfte Schüler psychisch belastet
Wo bleibt der Krisengipfel?