Anthropologe über die Situation in Mali: „Soldaten verbarrikadieren sich“
Gewaltausbrüche sind in Mali an der Tagesordnung, sagt Bréma Ely Dicko. Die Armee genießt in der Bevölkerung kein Vertrauen.
taz: Herr Dicko, wie bewerten Sie die aktuelle Lage in Mali?
Bréma Ely Dicko: Sie ist sehr konfus. 2012 hat sich die Krise auf den Norden konzentriert, sich ab 2015 aber weiter in Richtung Zentralmali ausgebreitet. Betroffen ist neben der Stadt Mopti auch der Norden der Stadt Ségou.
Welche Akteure gibt es?
Verschiedene Gruppen sind aktiv. Zu ihnen gehört die Macina-Befreiungsfront, die Teil der Gruppe für die Unterstützung des Islam und der Muslime (JNIM) ist und von Iyad Ag Ghaly angeführt wird. Am 30. September hat diese 40 Soldaten ermordet. Aktiv ist auch Ansar Dine. Zudem haben sich viele Selbstverteidigungsbündnisse wie Dan Nan Amassagou gegründet. Sie setzen Waffen ein, was zu viel Gewalt geführt hat.
Wie geht die Bevölkerung damit um?
Es gibt Vorbehalte gegenüber dem Staat. In Niono ist der Polizeikommissar gelyncht worden. Die Bevölkerung versteht nicht, warum es trotz der Präsenz von Barkhane, der Blauhelm-Soldaten [15.209 Soldaten und Polizisten im Oktober 2019] und der G5-Saheltruppe täglich zu viel Gewalt kommt. Junge Menschen schließen sich Selbstverteidigungsbündnissen und Terrorgruppen an. Versprechen von Staatsseite gibt es zwar. Doch die Skepsis ist groß, weil sich die Bevölkerung nicht ausreichend gehört fühlt.
Wie betrachten sich die unterschiedlichen ethnischen Gruppen?
leitet die Abteilung Sozialanthropologie an der Université des Lettres et des Sciences Humaines in der malischen Hauptstadt Bamako.
Sie sind argwöhnisch. Die Peul werden als Terroristen betrachtet, weil der Anführer der Macina-Befreiungsfront, Amadou Koufa, sowie viele Mitglieder Peul sind. Von ihnen gehörten 2012 einige der Bewegung für Einheit und Dschihad in Westafrika [Mujao] an. Allerdings sind auch andere Ethnien in bewaffneten Gruppen aktiv. Dafür gibt es oft weniger ideologische Gründe. Vielmehr sind die Menschen frustriert. Mitunter geht es auch um Selbstschutz. Klar ist, dass sich in diesem Kontext Klein- und Leichtwaffen stark verbreiten.
Wie wird das Militär gesehen?
Es ist viel investiert worden. Aber wo sind die Dinge? Auch heißt es, dass die Soldaten ausgebildet wurden. Dabei werden sie in ihren Kasernen angegriffen. Wie gelingt das den Terroristen? Die Bevölkerung fragt sich, wie die Lage wohl in einem oder zwei Jahren ist. Je mehr internationale Streitkräfte, malische Soldaten, Waffen es gibt, desto mehr kooperieren Terroristen und sorgen für Spannungen.
Plünderungen Die Spannungen in Mali, wo islamistische Rebellen Anfang Oktober tagelang zwei Armeebasen besetzt und 40 bis 85 Soldaten getötet hatten, nehmen zu. Fast täglich protestiert die Bevölkerung gegen die „Untätigkeit“ der Regierung und UN-Truppen. Am Samstag plünderten Demonstranten, meist Kinder, im zentralmalischen Sévaré die Lagerhalle der UN-Blauhelmbasis.
Massaker In Burkina Faso überfielen Bewaffnete am Freitag die mit Betenden gefüllte Moschee des Ortes Salmossi nahe der Grenze zu Mali und erschossen 16 Menschen. Über 1.000 Menschen versammelten sich am Samstag in der Hauptstadt Ouagadougou zu einer Kundgebung: Der islamistische Terror sei Vorwand für die Besetzung durch ausländische Truppen, hieß es. (dj)
Über wie viele Soldaten verfügt die Armee?
Geschätzt werden 18.000. Werden aber beispielsweise 100 Soldaten an einen Einsatzort geschickt, sind nur zwischen 80 und 90 vor Ort. Nach zwei bis drei Tagen lassen sich die übrigen zurück an Orte versetzen, die sicherer sind. Auch sind die hochrangigen Offiziere in Ministerien oder bei Botschaften. Gegen diese Vorgehensweise haben Soldatenfrauen demonstriert. Die Kritik lautet: Warum bleiben die, die am besten ausgebildet sind, in Bamako?
Es gibt zahlreiche Ausbildungsoffensiven, seit 2013 die europäische Ausbildungsmission EUTM, an der sich auch die Bundeswehr beteiligt. Seitdem müssten alle Soldaten mindestens einmal an einem Training teilgenommen haben.
Genau das macht es so ärgerlich. Seit 2012 ist klar, dass die malische Armee schlecht ausgestattet und schlecht ausgebildet ist. Viele Nationen, von Ungarn bis nach China, haben Missionen geschickt. Wie können aber Soldaten mit so vielen verschiedenen Ansätzen ausgebildet werden? Auch ist es eine Frage der Willensstärke der Soldaten. Sie sind ausgebildet worden, einige sogar an internationalen Militärschulen, andere im Antiterrorkampf. Trotzdem werden sie angegriffen. Die Terroristen haben die Ausbildung nicht, aber den Mut. Auch profitieren sie von der Aufrüstung der malischen, burkinischen und nigrischen Armee.
Was muss sich bei den Soldaten und der Armee ändern?
Bereitschaft zum Kampf und Akzeptanz, für die Heimat zu sterben. Auch muss sich die Strategie ändern. Die Fahrzeuge sind ungeeignet. Die Terroristen nutzen Motorräder. Warum können die Soldaten nicht Einheiten mit fünf bis zehn Motorrädern bilden? Es ist ein asymmetrischer Krieg.
Wie verhält sich die Bevölkerung?
Sie akzeptiert, jene zu beherbergen, die die Soldaten umbringen. Dabei sollten diese für die Bevölkerung da sein. Hier stimmt was nicht. Man hat mit der Reform des Sicherheitssektors begonnen. Leider steht die Sicherheit, die wichtig ist, im Vordergrund, nicht aber die Entwicklung für die Bevölkerung. Die Soldaten verbarrikadieren sich selbst. Es gibt Fälle von Vergewaltigungen. Wie soll man da Vertrauen zurückgewinnen?
Anfang Oktober gab es Gerüchte um einen Staatsstreich.
Die aktuelle Situation ist eine exakte Kopie der Lage von 2012. Die Bevölkerung hat damals demonstriert und betont, dass der Präsident – damals war es ATT [Amadou Toumani Touré] – inkompetent ist. Darauf folgte der Angriff auf Aguelhok, wo Soldaten starben. Die Soldatenfrauen haben protestiert. Genau das ist nun wieder passiert. Dazu kommt eine große Unzufriedenheit im Infrastruktur-, Gesundheits- und Bildungssektor.
Und die Opposition?
Soumaïla Cissé von der wichtigsten Oppositionspartei nimmt nicht am nationalen Dialog teil. Auch er hat kein Vertrauen mehr. Das gilt auch für die CMA (Coordination des mouvements de l’Azawad). Alles ist blockiert. Diesen Frust spürt auch der Präsident. Er sagte, dass ein Staatsstreich keine Lösung sei. Schutz vor einem Putsch gibt es aber nicht.
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