Annäherung von EU und Türkei: Atomkraft in Paris, Tee in Goslar
Erdoğan besucht Macron, sein Außenminister flirtet mit Gabriel. Die Türkei und die EU wollen ihre politischen Beziehungen wiederbeleben.
Die greifbarsten Ergebnisse der beiden Treffen sind neben einem Verbessern der Atmosphäre die deutsche Zusicherung, ein gemeinsames Wirtschaftsforum wieder in Gang zu setzen und die bisherige Zurückhaltung bei Rüstungsgeschäften zu überdenken. In Frankreich unterschrieb Erdoğan einen Vertrag für den Kauf von 25 Airbus-Maschinen und eine Absichtserklärung, gemeinsam mit Frankreich und Italien ein neues Raketenabwehrsystem zu entwickeln, das in der Türkei in der Zukunft dann die umstrittenen S-400-Raketen-Abwehr aus Russland ersetzen könnte.
Der Besuch von Çavuşoğlu in Goslar war wie ein privates Treffen inszeniert. Der türkische Außenminister frühstückte mit türkischem Tee bei Sigmar Gabriel und spazierte anschließend mit ihm durch die Stadt, um dann im Kaisersaal eine gemeinsame Pressekonferenz zu geben. Çavuşoğlu betonte mehrfach, sein Land wolle einen Neustart mit Deutschland, auch wenn es nach wie vor viele Meinungsverschiedenheiten gebe. Gabriel versprach freundliche Zuwendung und Gespräche auf Augenhöhe.
Die in der Türkei gefangenen deutschen Staatsbürger, vor allem der Journalist Deniz Yücel, wurden nicht erwähnt, Gabriel gab aber zu verstehen, sie hätten unter vier Augen darüber gesprochen. Gabriel bestritt, dass es einen Zusammenhang zwischen Rüstungslieferungen und der möglichen Freilassung von Deniz Yücel gebe. Zuvor hatte er aber gesagt, ohne dessen Freilassung wäre an Rüstungslieferungen nicht zu denken.
Gabriel kündigte an, die Gespräche mit der türkischen Seite fortzusetzen und zu dem anstehenden 150-jährigen Jubiläum der Deutschen Schule in Istanbul an den Bosporus zu reisen.
Erdoğan wies den Frager barsch zurecht
In Paris ging es noch deutlicher als in Goslar vor allem um ein Wiederbeleben der Geschäfte. Paris will den Türken Rüstungsgüter, Flugzeuge und Atomkraftwerke verkaufen und deshalb auch die Perspektive der Türkei mit der EU reaktivieren. Man müsse das Verhältnis neu denken, sagte Macron und erwähnte, wie vor ihm auch schon Gabriel, das Verhältnis könne sich langfristig an dem Vertrag orientieren, den die EU mit den Briten aushandeln will. Zu der Liste inhaftierter Journalisten, die Macron Erdoğan mit der Bitte übergeben hatte, eine Haftentlassung zu prüfen, sagte Erdoğan, das seien alles Kriminelle oder Unterstützer von Terroristen.
Wie wenig sich Erdoğan um die europäischen Vorhaltungen über seinen Umgang mit der Presse schert, machte er in Paris deutlich, als er einen französischen Journalisten, der ihn während der Pressekonferenz nach den geheimen Waffentransporten fragte, die die Zeitung Cumhuriyet und der Journalist Can Dündar 2015 enthüllt hatten, scharf angriff. Er wies den Frager barsch zurecht, er würde wie ein Gülen-Agent fragen und solle eher darüber recherchieren, dass die USA 4.000 Laster voller Waffen ins Kriegsgebiet gebracht hätten.
Trotz solcher Misstöne scheinen im Moment alle Seiten entschlossen, wieder miteinander ins Geschäft zu kommen. Obwohl Erdoğan betonte, wie sehr er über die EU enttäuscht sei, machte er den Vorschlag, die Konferenz der muslimischen Länder und die EU sollten versuchen, eine Friedenslösung für Palästina zu erarbeiten. Hintergrund ist die gemeinsame Ablehnung der Politik von US-Präsident Donald Trump, der angekündigt hatte, die US-Botschaft nach Jerusalem zu verlegen.
Erdoğan sieht an dieser Stelle und in der gemeinsamen Ablehnung der Trump’schen Politik gegenüber Iran neue Anknüpfungspunkte. Während Çavuşoğlu in Goslar mit Gabriel flirtete, machte Erdoğan in Paris deutlich, dass er zumindestens im Moment Emmanuel Macron als die Stimme der EU ansieht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen