Anja Seibert-Fohr wird Richterin am EGMR: Die Neue in Straßburg
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bekommt eine neue Richterin: Anja Seibert-Fohr. Eine Frau mit viel Erfahrung.
Ist über dem Bundesverfassungsgericht nur der blaue Himmel? Nein, wer in Karlsruhe verloren hat, kann noch nach Straßburg gehen, zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Der ist für alle 47 Staaten des Europarats zuständig, also für rund 820 Millionen Menschen von Portugal bis Sibirien. Er hat nichts mit der EU und deren Europäischem Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg zu tun. Die 47 Richter*innen des EGMR (eine*r pro Staat) wachen über die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Ab dem 1. Januar 2020 wird auch die deutsche Richterin Anja Seibert-Fohr bei dieser Wache helfen. Die 50-Jährige war zuletzt Rechtsprofessorin in Heidelberg. Wie üblich musste Deutschland drei Jurist*innen für den Posten vorschlagen, die Auswahl fiel im Juni in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats. Seibert-Fohr setzte sich dabei gegen den Völkerrechtler Thilo Mahraun und die Bundesrichterin Christiane Schmaltz durch.
Für Seibert-Fohr sprach ihre große menschenrechtliche Erfahrung. Von 2013 bis 2017 war sie bereits Mitglied im UN-Menschenrechtsausschuss in Genf, die letzten zwei Jahre sogar als Vizepräsidentin. Dort prüfte sie Staatenberichte zur jeweiligen Lage der Menschenrechte. Es gibt in Genf aber auch Individualbeschwerden – eine gute Vorbereitung für Seibert-Fohr. „Der UN-Ausschuss ist zwar kein Gericht, aber die Entscheidungsfindung bei Individualbeschwerden ist ganz ähnlich wie in einem Gericht“, sagt sie.
Nun kann sie ihre Erfahrungen in Straßburg beim EGMR einbringen. Für sie ist das kein Neuland. Sie hat in Straßburg schon viele Vorträge gehalten, die Hälfte der Richter*innen kennt sie bereits von wissenschaftlichen Tagungen.
Recht und Diplomatie
Die meisten Urteile des EGMR richteten sich in den letzten Jahren gegen Russland und die Türkei. Mehrfach wurde der repressive Umgang Russlands mit dem Oppositionellen Alexei Nawalny gerügt. In der Türkei wurden 2019 unter anderem die Inhaftierungen des kurdischen Politikers Selahattin Demirtas und des Mäzens Osman Kavala beanstandet. Der EGMR kann deren Freilassung allerdings nicht direkt anordnen, sondern den Betroffenen nur Entschädigung zusprechen.
Deutschland wird in Straßburg relativ selten verurteilt. So scheiterte 2019 zum Beispiel die Beschwerde eines christlichen Elternpaars, das seine Kinder zu Hause unterrichtete und daraufhin das Sorgerecht verlor.
Die Aufgabe der Straßburger Richter*innen ist oft heikel. Staaten wie Russland akzeptieren die Urteile des EGMR teilweise nicht mehr. Seibert-Fohr braucht neben Rechtskenntnissen also auch diplomatisches Fingerspitzengefühl.
Seibert-Fohrs Vorgängerin als deutsche EGMR-Richterin war Angelika Nußberger. Sie kehrt nun nach neun Jahren auf ihren Lehrstuhl an die Uni Köln zurück, wird aber auch in der Venedig-Kommission des Europarats beratend tätig bleiben, die nach eigenen Angaben vor allem in Osteuropa bei der Ausarbeitung von Verfassungen berät.
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