Anja Karliczek über die Pisa-Studie: „Das hat mich erschreckt“
Herkunft bestimmt Zukunft, zeigt die aktuelle Pisa-Studie: Bildungsministerin Anja Karliczek will das ändern. Wie, erklärt sie im Interview.
taz am wochenende: Frau Karliczek, ist unser Bildungssystem gerecht?
Anja Karliczek: Gerechtigkeit heißt für mich, dass wir es schaffen müssen, wirklich jede Schülerin und jeden Schüler so optimal, wie es geht, zu fördern. Da ist schon eine Menge passiert, dank des Engagements unserer Lehrerinnen und Lehrer vor allem.
Aber?
Aber wir schaffen es immer noch nicht, wirklich jedem die Möglichkeit zu geben, das Beste aus sich rauszuholen zu können. Über Chancengerechtigkeit wird nun seit Jahrzehnten diskutiert. Dass wir 20 Prozent junge Leute haben, die mit 15 Jahren, also kurz bevor sie die Schule verlassen, nicht sinnverstehend einen Text lesen können, hat mich erschreckt. Das passt überhaupt nicht zu unserem Ziel, niemanden zurückzulassen.
Die aktuelle Pisa-Studie zeigt, dass dies viel häufiger Kinder aus unteren Schichten sind als Kinder aus Akademikerfamilien. Warum?
Das Elternhaus prägt natürlich die Kinder. Wenn man zu Hause keine Unterstützung bekommt, ist es viel schwieriger, beispielsweise das Lesen für sich zu entdecken.
Anja Karliczek, 48, ist seit 2018 Bundesministerin für Bildung und Forschung. Sie absolvierte zwei Ausbildungen – zur Bankkauffrau und zur Hotelfachfrau – und studierte berufsbegleitend BWL an der Fern-Uni Hagen. Für die CDU zog die Mutter von drei Kindern 2013 erstmals in den Deutschen Bundestag ein.
Es liegt also an den Eltern, dass ihre Kinder in der Schule und bei den Pisa-Tests schlechter abschneiden?
Nein, natürlich ist unser Bildungssystem, die gesamte Gesellschaft, gefordert, schlechtere Startchancen auszugleichen. Gleichwohl ist es wichtig, das Bewusstsein noch mehr zu fördern, wie wichtig Bildung ist.
Der hessische CDU-Kultusminister Lorz hat die Pisa-Ergebnisse damit begründet, dass an den Schulen heute mehr Kinder mit Migrationshintergrund lernen. Machen Sie auch die Zuwanderer dafür verantwortlich, dass Deutschland Mittelmaß ist?
Ich glaube, es gibt nicht nur eine Ursache. Das wäre nicht richtig. Ein Punkt ist aber sicher, dass die Heterogenität größer wird. Wir haben heute viel mehr Kinder aus anderen Kulturkreisen. Je homogener eine Klasse ist, desto einfacher ist es natürlich für Lehrerinnen und Lehrer, die Kinder abzuholen. Je größer die Heterogenität, desto schwieriger ist es. Deshalb haben wir gerade das Programm „Schule macht stark“ für Schulen in schwierigen sozialen Lagen aufgelegt.
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Mit diesem 125-Millionen- Programm für Brennpunktschulen erreichen Bund und Länder in den nächsten fünf Jahren 200 Schulen. Nicht mal jede tausendste allgemeinbildende Schule.
Das ist nicht das einzige Programm. Wir schicken jetzt Wissenschaftler in die Schulen, damit sie herausfinden, was wirkt.
Aber es gibt doch längst Schulen, die es schaffen, ihre Schüler trotz unterschiedlicher Voraussetzungen auf Spitzenniveau zu bringen. Etwa die mit dem Schulpreis prämierten Schulen.
Der Schulpreis zeigt uns immer Leuchttürme. Aber wir brauchen ein Angebot von Konzepten und Instrumenten, das alle Schulen nutzen können. Das gibt es noch nicht.
Neben den leistungsschwachen werden auch die starken Schüler gefördert. Mit ebenfalls 125 Millionen Euro. Müssten Sie nicht viel mehr in die weniger privilegierten Schüler investieren?
Nein, in beide Programme. Wir müssen auch die Leistungsstarken besser fördern. Auch das ist eine Frage von Gerechtigkeit. Es muss unser Anspruch sein, dass wir jedem Kind immer wieder die Chancen bieten, seine eigenen Grenzen zu verschieben.
Ist es dann sinnvoll, Kinder noch vor der Pubertät in „begabungsgerechte“ Schulformen aufzuteilen? Auf den nichtgymnasialen Schulformen ist das Leseniveau deutlich geringer, die Leistungsspitze fehlt fast gänzlich, wie Pisa zeigt.
Es macht auf jeden Fall Sinn, Kinder in homogene Lerngruppen aufzuteilen. Dort sind Lehrerinnen und Lehrer am besten in der Lage, sie auch richtig zu fördern. Bedenken Sie: Auch Leistungsschwächere brauchen Erfolgserlebnisse und Leistungsstärkere weiterführende Angebote und auch Wettbewerb.
Das geht nur in homogenen Gruppen?
Wir haben in den letzten Jahren ständig über Schulstrukturen diskutiert, anstatt zu überlegen, wie man Kinder in den gegebenen Strukturen besser fördern kann – ein Fehler.
Hauptfach Lesen Der Schwerpunkt der aktuellen Pisa-Studie lag auf dem Leseverständnis. Die deutschen Schüler liegen im Schnitt mit 498 Pisa-Punkten leicht über dem OECD-Durchschnitt im Mittelfeld auf dem dritten von sechs Kompetenzniveaus. Ähnliche Mittelwerte erreichen Belgien und Frankreich.
Unterschiede Die sind zwischen starken und schwachen Schülern überdurchschnittlich groß und zunehmend. Die Gruppe der starken Leser ist gegenüber 2009 gewachsen auf 11 Prozent (OECD-Durchschnitt 9 Prozent). Auf knapp 21 Prozent ist aber auch die Gruppe der Schüler gewachsen, die kaum lesen können.
Und Die Leistungsunterschiede zwischen Schülern aus gut situierten und aus sozial benachteiligten Elternhäusern sind gegenüber 2009 ebenfalls weiter gewachsen.
Einig sind sich alle jedoch darin, dass man früh beginnen muss. Nun hat die CDU auf ihrem Parteitag den Beschluss gefasst, bei allen Kindern im Alter von 4 Jahren verbindlich die Deutschkenntnisse zu testen. Und dann?
Dann muss es eine verpflichtende Förderung geben, bis die Kinder in die Schule kommen.
Und wenn sie nicht gut genug Deutsch sprechen: Werden sie dann zurückgestellt?
Wenn man sie zwei Jahre ganz intensiv fördert, dann, glaube ich, ist bei 99 Prozent diese Frage nicht mehr relevant. Kinder lernen ja so schnell.
Und das eine Prozent?
Wer zur Einschulung noch Defizite hat, sollte in den ersten Monaten in der Schule ganz gezielt unterstützt werden.
Die Frage ist nur, wer das leisten soll. Bis 2025 fehlen bis zu 600.000 ErzieherInnen.
Wir müssen mehr ausbilden. Es gibt viele Anstrengungen, den Erzieherberuf zu stärken.
Momentan herrscht aber noch ein eklatanter Mangel. Sowohl bei ErzieherInnen als auch bei LehrerInnen und Sozialpädagogen. Was haben die Länder versäumt?
Wir haben zu lange Stellen sowie Studien- und Ausbildungsplätze abgebaut und uns zu spät auf steigende Schülerzahlen eingestellt. Außerdem gibt es, wie in anderen Berufen auch, Fluktuation.
Muss der Bund die Länder bei der Ausbildung von Pädagogen nicht stärker unterstützen?
Wir investieren bereits in die Qualität der Lehrerausbildung. Aber die Anzahl der Studienplätze ist Sache der Länder und der Hochschulen. Die Länder müssen eine gemeinsame Strategie entwickeln.
Trauen Sie ihnen das zu? Gegenwärtig werben sich die Länder die LehrerInnen gegenseitig ab.
Im Grunde haben doch alle Länder die gleichen Sorgen. Also sollten sie auch gemeinsam diskutieren und sich dabei von der Wissenschaft beraten lassen.
Sie spielen auf den Nationalen Bildungsrat an, der die Politik beraten soll. Vor allem Unionspolitiker waren dagegen. Fühlen Sie sich von Ihren eigenen Parteifreunden im Stich gelassen?
Wenn die Länder das Problem ohne den Bund lösen können, dann hätten wir mit der ganzen Diskussion um den Nationalen Bildungsrat einiges erreicht. Ich bin aber überzeugt: Ohne eine Zusammenarbeit von Ländern und Bund wird es im Bildungsbereich nicht gehen. Der Bund ist bereit, sich zu engagieren.
Es war zu lesen, Frau Karliczek habe ihre CDU nicht im Griff. Sie zucken mit den Schultern …
Die Diskussion verläuft an dieser Stelle ja nicht entlang von CDU/CSU und SPD, sondern zwischen Bund und Ländern. Es sind auch nicht alle Länder glücklich damit, dass es so gelaufen ist.
Jetzt haben die KultusministerInnen sich überraschend geeinigt: Statt des Bildungsrats soll ein Wissenschaftlicher Beirat die Länder beraten. Der Bund bleibt außen vor. Was halten Sie davon?
Es ist gut, dass alle Kultusminister nun doch Handlungsbedarf sehen und die Expertise der Wissenschaft stärker einbeziehen wollen. Immerhin. Wir müssen aber schauen, wie nun dieses Gremium ausgestaltet und wie der Bund einbezogen wird.
Braucht es eine neue Föderalismusdebatte, wenn man bei bestimmten Punkten einfach nicht weiterkommt?
Das führt uns nicht weiter, wenn wir immer wieder die Verteilung der Zuständigkeiten im Bundesstaat infrage stellen, anstatt zu fragen, wie wir eine bessere Zusammenarbeit innerhalb der Strukturen hinkriegen.
Aber daran hapert es doch. Nehmen Sie die Abiturstandards. Sachsen fürchtet, wie Berlin zu werden. Und alle Länder haben Angst, ihre Unabhängigkeit aufzugeben.
Wir wollen doch alle miteinander einen hohen Bildungsstandard. Das sage ich auch in Richtung Bayern oder Sachsen: Wenn sie hohe Bildungsstandards haben wollen, dann können sie sich gern an meine Seite stellen.
Viele Studierende sind nicht an ihrer Seite. Sie bekommen zwar mehr Bafög, aber für die Miete reicht es kaum. Finden Sie es okay, wenn sich München oder Heidelberg nur Kinder reicher Eltern leisten können?
Ich glaube, andersherum wird ein Schuh draus. Egal, wo man in Deutschland studiert – überall wird ein qualitativ sehr hochwertiges Studium angeboten.
Aber haben nicht alle das Recht, sich ihren Studienort frei zu wählen – unabhängig von den finanziellen Ressourcen?
Der Bund stellt zum Beispiel Milliarden für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung. Die sollten die Länder auch für Studentenwohnheime nutzen. Das Problem von günstigem Wohnraum für Studierende müssen die Länder lösen.
Den Berliner Mietendeckel begrüßen Sie also?
Nein. Denn der Mietendeckel löst das Problem von mangelndem Wohnraum nicht.
Zurück zur Bildung. Was muss jetzt passieren: Brauchen wir einen neuen Bildungsgipfel?
Wir brauchen eine nationale Kraftanstrengung für bessere Bildung. Ein „Weiter so“ geht nicht. Gerade nach den aktuellen Pisa-Ergebnissen!
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