Anhaltende Proteste in Sibirien: Russlands Ferner Osten hält durch
Die Massenproteste in Chabarowsk gegen die Festnahme des populären Gouverneurs Sergei Furgal reißen nicht ab. Moskau stellt sich taub.
Dort droht ihm ein Prozess wegen angeblicher Mordaufträge 2004 und 2005. Der 50-Jährige weist die Vorwürfe zurück.
Die Fernostler an der Grenze zu China fordern die Freilassung Furgals sowie einen „fairen Prozess“ in Chabarowsk. Seit Tagen halten die Proteste die 600.000-Einwohner-Stadt in Atem.
Die Region ist eine Hochburg der Nationalisten aus der LDPR um Wladimir Schirinowski. Der Ultranationalist kommt mit seinen ungeschminkten Sprüchen dort besonders gut an. Auch das Regionalparlament und die Stadtverordnetenversammlung werden von der LDPR beherrscht.
Siegreich gegen Kremlpartei
2018 hatte Furgal bei den Gouverneurswahlen fast 70 Prozent der Stimmen geholt und den Kandidaten der Kremlpartei Geeintes Russland geschlagen.
Gewöhnlich zählt die LDPR zu den willfährigen Steigbügelhaltern der Kremlpartei. Als Belohnung darf sie sich schärfere Töne erlauben, ist in der Praxis aber eher lammfromm. Schirinowski und der Kreml reagieren jetzt hilflos. Schirinowski will die guten Beziehungen zum Kreml nicht verlieren. Und Moskau weiß nicht, wie es den Konflikt handhaben soll, ohne weiteren Staub aufzuwirbeln.
Bislang stellt sich Moskau taub. Kein zentraler Sender berichtet über die Ereignisse. „Moskau weiß nicht, was es machen soll“, meint der Politologe Dmitri Oreschkin. Er vergleicht die Mentalität der Menschen im Fernen Osten mit der des Wilden Westens. „Dort gehen Leute mit dem Colt im Gürtel hin, kurzum Menschen, die nur auf sich selbst setzen.“ Sie seien unabhängiger und verdienten selbst ihr Geld, so Oreschkin.
Bürgermeister der Kremlpartei sorgt für schlechte Stimmung
Für schlechte Stimmung sorgte die Behauptung von Chabarowsks Bürgermeister Sergei Krawtschuk, dass die Demonstranten nur „für Geld“ protestierten. Kaum hatte er dies gesagt, ruderte die Administration zurück. Das sei nicht so gemeint gewesen. Krawtschuk gehört der Kremlpartei an. Er hatte dazu aufgefordert, wegen der Ansteckungsgefahr durch das Coronavirus zu Hause zu bleiben. Auch der Geheimdienst wurde aktiv und vereitelte angeblich einen geplanten Anschlag in Chabarowsk.
Die Polizei vor Ort ließ sich davon nicht beirren. Sie verteilte Masken gegen das Virus an die Demonstranten und nahm trotz fehlender Marscherlaubnis niemanden fest. Die Ordnungshüter hatten schon im Vorfeld Verständnis für die Proteste gezeigt. „Lieber sollen die Regionen arm sein als unabhängig. Dem Kreml gefällt diese Selbstständigkeit nicht“, meint Politologe Oreschkin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland