Angst vor Farbe: Grün ist nicht okay
Jeder von uns fürchtet sich vor etwas. Anaïs auch. Aber ihre Angst ist selten und schwer vermittelbar: Die Farbe Grün lässt sie schaudern.
Ein Armband zum zwanzigsten Geburtstag! Es war vermutlich schön und sicher nicht billig, das hatte sie an der Marke erkannt. Aber sie weinte und fühlte sich verraten, missachtet. Wie konnten sie das machen? Ihr dieses Armband schenken? In Grün. Warum wünschten sie ihr Böses? Sie nahm es nicht an, schickte die Freunde, die keine waren, weg.
Das ist sieben Jahre her. Damals war Anaïs zwanzig, wohnte noch in Paris und arbeitet für eine Bank, trug Businesslook. Heute sitzt sie mit knallroten Lippen und Nasenring in einer WG-Küche in Berlin. Die Nägel ihrer knochigen Finger sind in Silber lackiert und umschlingen eine Tasse. Sie trinkt grünen Tee. Das ist okay. Grüne Lebensmittel sind okay. Auch Wälder oder Wiesen. Aber Grün an sich nicht. Grüne Gegenstände sind für sie der „böse Blick“. Sie übertragen Flüche und bringen Unglück, wollen ihr schaden.
„Nein, das war natürlich nicht schon immer so“, sagt sie. Sie muss fünf Jahre alt gewesen sein, als sie mit ihrer Mutter einen guten Freund der Mutter besuchen ging. Sie wisse nicht mehr, was sie anhatte, nur an das Haarband könne sie sich erinnern. Sie habe oft Haarbänder getragen, und dieses mochte sie besonders gerne. Bis zu diesem Tag. Der Freund habe die Tür aufgemacht und sie entsetzt angeschaut: „Mit dem Haarband kann die Kleine hier nicht rein. Ausgeschlossen. Grün! Geht nicht!“ Da erkannte sie: Grün ist eine böse Farbe.
Grüne Schulhefte? In den Papierkorb
Seine Mutter liegt im Wachkoma. Er möchte sie erlösen. Also beschließt Jan, sie zu töten. Die Geschichte über die Grenzen der Sterbehilfe lesen Sie in der taz.am wochenende vom 28. Februar/1. März 2015. Außerdem: Unser Fotoreporter betrinkt sich mit Chinesen. Ein Jugendlicher erklärt Erwachsenen die Welt. Und: Das Erzbistum Köln legt seine Finanzen offen. Aber entsteht dadurch echte Transparenz? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen http://taz.de/we
Nach und nach verbannte sie die Farbe aus ihrem Leben. Die grünen Schuhe? Weg! Sie könnte umknicken. Grüne Schulhefte? In den Papierkorb! Sie würde die Prüfungen nicht bestehen. „Aber ich habe einen sehr weichen, kuscheligen grünen Kapuzenpullover. Den trage ich sehr selten und nur an unwichtigen Tagen. Niemals zu einem Vorstellungsgespräch oder so!“ Sie lacht bei diesem Gedanken. „Das wäre blöd! Wenn es nicht klappen würde, dann wäre für mich klar, dass es an dem grünen Pullover gelegen haben muss!“
Ob es ihren Alltag bestimme? Ja, es sei immer da. Es hält sie nicht ab, etwas zu machen, aber es macht ihr Angst, es bedroht sie. Alles was aktiv ist, mit ihr in Interaktion tritt und grün ist, ist eine potenzielle Gefahr. „Steuern kann ich das nicht, aber ich kann mich bewusst dafür entscheiden, es zuzulassen. In meinem Inneren kann es grün sein.“
Sie erwarte von niemanden, dass er das versteht. Aber berücksichtigen sollten es ihre Freunde schon. Auch die neuen, die sie hier in Berlin kennengelernt hat, seit sie im letzten Sommer hergezogen ist. Letzte Woche gerade hatte sie ein unangenehmes Erlebnis im Deutschkurs. Ihr Übungspartner sagte: „Ich schreib das mal schnell in das Heft, okay?“ Es war nicht okay. Er hat immer einen blauen und einen grünen Stift dabei, und bevor sie was sagen konnte, hatte er schon einen grünen Satz in ihr Notizheft geschmiert. Sie war wütend und schämte sich zugleich. Er wusste doch Bescheid! Warum tat er es trotzdem?
Sie rannte auf die Toilette und weinte. Was sollten die anderen Mitschüler denken. Sie hatte ja geradezu reagiert, als hätte sie einen Todesnachricht erhalten. „Sag nichts“, bat sie den Klassenkameraden. Er hatte in der Zwischenzeit die Schmiererei mit schwarzem Edding und weißem Korrekturstift überpinselt.
Dabei war das Heft doch sorgfältig gewählt. Eine Freundin habe es ihr geschenkt – vorne ist ein Bild von Frida Kahlo drauf, eine starke Frau, ein Vorbild. Dass das Porträt grün umrahmt ist, hat sie Überwindung gekostet. Gründlich nachgedacht hat sie, denn die Freundin hat es gut gemeint, wusste dass sie Frida mag. Sollte sie es aber nicht schaffen, Deutsch zu lernen, dann …
Das Visum für die USA? In einer grünen Hülle
Einschneidend war für Anaïs das Erlebnis mit dem Visumsantrag für die USA letztes Jahr. Sie wollte weg aus Paris, nach Los Angelos, zur großen Liebe. Alles war ausgefüllt, eine Freundin sollte es auf der Arbeit ausdrucken. Beim Treffen im Café packt die Freundin den Stapel Papier aus. Es sind viele Seiten, sie musste es vor dem geizigen Chef verstecken, hat es schnell in eine Plastikhülle gepackt. Anaïs erstarrte. Die Hülle – grün. „Ich bat sie, es neu auszudrucken, mir nicht noch mal die gleichen Papiere zu geben. Aber vermutlich hat sie es doch getan.“ Der Antrag wurde abgelehnt, der Traum platzte. In Paris bleiben wollte sie nicht, alles war schon aufgelöst. Auf keinen Fall würde sie wieder in der Bank arbeiten. Nicht nach zwei Überfällen und einem Stalker.
Also dann Berlin. Wochenlang suchte sie eine Wohnung. Nicht nur weil bezahlbare Wohnungen in Berlin knapp sind. „Du glaubst nicht, wie viele Menschen in Berlin grün gestrichene Zimmer vermieten wollen!“
Sie habe gehört, erzählt sie, dass in Theatern die Farbe grün auch als Unglücksfarbe betrachtet werde. Sie habe zwar nichts darüber gelesen, aus Angst zu viel zu erfahren, aber es gäbe wohl eine Studie über abgebrannte Theater – sie seien alle grün gewesen. „Mein Papa ist Schauspieler, vielleicht kommt das alles daher.“ Er spielte viel in kleinen Theatern, aber auch in größeren iranisch-französischen Koproduktionen. Er ist Iraner, kam mit vierzehn Jahren nach Frankreich, musste sich durchschlagen. Erst in den letzten Jahren spiele er wieder eine größere Rolle in ihrem Leben, sagt Anaïs. „Meine Großeltern sind Iraner, auch mein dritter Vorname und zweiter Nachname sind iranisch.“ Anaïs lacht und zeigt ihren Personalausweis. Anaïs Marie-Aurore Nastassja Bahar Madjlessi de Bourgognere – der Name geht über drei Zeilen.
Einmal hat ihre Verbundenheit mit dem Iran ihr einen verstauchten Knöchel und eine allergische Reaktion auf ein Schmerzmittel beschert. „Ich bin bei einer iranischen Demo in Paris mitgelaufen. Um mich herum: nur grüne Flaggen. Die Farbe des friedlichen Protests.“ Dabei sei sie umgeknickt. „Ist klar, warum.“
Eine Therapie? Ob sie die nicht machen wolle? Sie therapiere sich selbst. Mit einem sehr grünen Gürtel, den die Mutter ihr geschenkt hatte. Mit dem ist sie in ein Flugzeug gestiegen, um sich zu beweisen, dass nichts passieren würde. Es ist nichts passiert. „Diesmal.“
Es ist Abend, sie tauscht Tee gegen Wein. „Nee, grüne Flaschen machen nix. Es ist ja roter Wein drin.“
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