Angst und Wut in der Pandemie: Affekte beherrschen unsere Zeit
Es sind nicht Überzeugungen, sondern Emotionen, die uns aktuell spalten. Für eine Gesellschaft ist die Vorherrschaft der Affekte höchst problematisch.
W as man derzeit mit aller Deutlichkeit feststellen kann: Die Meinungen zu allem driften massiv auseinander. Die Meinungen über das, was Realität ist – und was nicht. Was Aufklärung ist – und was nicht. Was Satire ist – und was nicht. Was korrekt ist – und was nicht. Was Wahrheit ist – und was nicht. Was Diktatur ist – und was nicht. Was Freiheit ist – und was nicht. Kurzum: die Meinungen über die grundlegensten Kategorien der gesellschaftlichen Existenz driften auseinander. Immer schneller. Und immer weiter. So weit, dass eine Verständigung immer schwieriger wird.
Das Erstaunliche dabei ist: Die Unterschiede verlaufen nicht einfach entlang politischer Überzeugungen und Parteien. Die unterschiedlichen Meinungen entsprechen nicht notwendig den Großgruppen und Klassen. Sie folgen nicht exakt den gesellschaftlichen Klassifizierungen. Sie erstrecken sich vielmehr in die privateste Umgebung und entzweien diese.
Plötzlich weist diese ganz persönliche Lebenswelt Trennlinien auf, die bis vor Kurzem noch undenkbar waren. In den Familien. Im Freundeskreis. Im Arbeitsumfeld. In den medialen Foren. In dem, was einmal als Echokammer gescholten wurde. Undenkbar war das nicht nur als Trennlinien, als unterschiedliche Meinungen, als Auseinanderdriften der Positionen – sondern undenkbar war das auch in der Schärfe, in der Dringlichkeit, in der Vehemenz und in der Unnachgiebigkeit, wie es sich heute präsentiert.
Und genau das zeigt, dass wir es längst nicht mehr einfach nur mit Meinungen zu tun haben, sondern mit etwas anderem: mit Leidenschaften. Mit emotionalen Erregungen. Mit Affekten. Denn nur Gemütsbewegungen weisen solch eine Intensität, solch eine Heftigkeit auf. Wir leben also in einer Zeit, wo die Affekte vorherrschen. Wir leben im Affekt.
Anhaltende Ausnahmesituation
Jetzt muss man einmal sagen, dass das für solch eine lange, anhaltende Ausnahmezeit, wie es diese Pandemie ist, alles andere als erstaunlich ist. Natürlich treten sich Menschen, die unter solchen Bedingungen leben – also alle, denn das haben alle gemein (wenn auch in sehr unterschiedlichen Bequemlichkeitsgraden) –, in solcher Ausnahmesituation nicht kühl als rational argumentierende Vernunftsubjekte gegenüber.
Wenn man also feststellen muss, dass es derzeit eine Vorherrschaft der Affekte gibt, dann stellt sich die Frage: Welche Affekte sind das dann? Welche herrschen vor? Die Antwort ist eindeutig: Es ist Angst. Und Wut.
Angst vor Corona. Angst vor den wirtschaftlichen Folgen. Den eigenen und den allgemeinen. Angst um seine Nächsten. Angst vor Einsamkeit. Und Wut: Wut über die Regierung. Und Wut über die Regierungsgegner. Wut über Verschwörungstheorien. Und Wut über Verschwörungstheoretiker. Wut über die Pharmaindustrie. Und Wut über jene, die gegen die Pharmaindustrie sind.
Wir haben also alle teil an dem Vorherrschen der Affekte. Aber das eint uns nicht. Ganz im Gegenteil. Denn es sind ja nicht verbindende, sondern vielmehr antagonistische Leidenschaften. Die gegensätzlichen Meinungen haben sich in gegensätzliche Leidenschaften verwandelt. Und egal wie rational oder irrational sie sein mögen – die Argumente kaschieren nur schlecht die Affekte, die hier aufeinanderprallen: Ablehnungen, Abgrenzungen. Und diese folgen der Logik der Affekte. Sie sind ansteckend. Sie breiten sich aus. Es sind Antagonismen, Unterschiede, Widersprüche, die sich gegenseitig verstärken und eskalieren. Vom Gegensatz bis zum Hass.
Solche Vorherrschaft von Affekten, solches Auftreten von Emotionen ist aber für jede Gesellschaft höchst problematisch. Denn dies untergräbt die grundlegendsten Übereinkünfte. Das politische Problem beginnt also schon dann, wenn die Affekte so gesteigert sind, so blank liegen – und nicht erst bei den Meinungen. Deshalb ist die Neutralisierung solch negativer Leidenschaften eine ebenso heikle wie dringliche politische Aufgabe. Eine Aufgabe, die heute nicht mehr alleine den klassischen Staatsapparaten zukommt. Sondern längst auch den neuen politischen „Akteuren“ – den medialen Apparaten.
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