Angela Merkel und die Frauen: Die Wählerin im Blick
Im Jahr 2005 suchte Merkel erfolglos zu verbergen, dass sie eine Frau ist. Den Fehler will sie kein zweites Mal begehen.
Am 12. November 1918 ist es nach Jahrzehnten des Kampfs um das Wahlrecht so weit. Nur einen Tag nach der Kapitulation Deutschlands am Ende des Ersten Weltkrieges verkündet der "Rat der Volksbeauftragten" (so heißt die im Zuge der Novemberrevolution an die Macht gekommene Reichsregierung) mit Gesetzeskraft: "Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht auf Grund des proportionalen Wahlsystems für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen." Kurz darauf wird das Wahlrecht mit der Verordnung über die Wahlen vom 30. November 1918 gesetzlich fixiert. Damit können Frauen an der Wahl zur ersten demokratischen Nationalversammlung Deutschlands am 19. Januar 1919 teilnehmen. 15 Millionen Männer und 17,7 Millionen Frauen geben ihre Stimme ab. Die Wahlbeteiligung unter den Frauen liegt bei 82 Prozent. Von 423 gewählten Abgeordneten sind 41 Frauen.
Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 wird den Frauen das passive Wahlrecht 1933 wieder entzogen, sie dürfen im Dritten Reich kein politisches Amt ausüben.
In den USA erhalten die Frauen 1920 mit der Verabschiedung des 19. Verfassungszusatzes das vollständige Wahlrecht auf Bundesebene. Großbritannien kommt am 2. Juli 1928 hinzu, nachdem Frauen ab 1919 nur eingeschränkt wählen durften (Mindestalter 28 Jahre und nur, wenn sie selbst oder ihre Ehegatten das an Besitz gebundene kommunale Stimmrecht besaßen). In der Türkei haben die Frauen seit 1930 das aktive Wahlrecht und seit 1934 das passive Wahlrecht. Als Frankreich sich im Sommer 1944 mit Hilfe der Alliierten von der deutschen Besatzung befreit, erhalten die französischen Frauen, 1946 dann die Belgierinnen und ebenfalls 1946 die Italienerinnen volles Wahlrecht (vorher hatten sie - seit 1925 - nur ein kommunales Wahlrecht). In Indien wird das Wahlrecht für Frauen 1950 eingeführt. Die Schweizerinnen müssen auf ihr Wahlrecht auf Bundesebene bis zum 7. Februar 1975 warten. Der Kanton Appenzell Innerrhoden führt das Recht erst 1990 ein. WG
Es beginnt wie eine harmlose Anekdote, die man eben erzählt als Politikerin an einem Tag wie diesem, an dem im Kanzleramt der neunzigste Jahrestag des Frauenwahlrechts in Deutschland gefeiert wird. Als ein Parteifreund sie im Jahr 2000 erstmals fragte, ob sie CDU-Vorsitzende werden wolle, da habe sie zunächst gezögert, berichtet Angela Merkel - um dann ihre bemerkenswerte Antwort anzufügen: "Ich weiß nicht, ob ich konservativ genug bin."
Nicht dass dieser Zweifel neu wäre. Nicht wenige Christdemokraten hegen ihn schon länger - und fühlen sich jedes Mal bestätigt, wenn Merkel wieder einen ehernen Grundsatz mit dem Hinweis auf angebliche Koalitionszwänge über Bord wirft. Neu ist, dass Merkel das so sagt. Dass sie anders als in ihrer Anfangszeit als Parteivorsitzende nicht mehr so tut, als wäre sie eine verstockte westdeutsche Konservative aus der Adenauerzeit.
Neu ist vor allem, dass Merkel ihre Rolle als Frau so stark herausstellt. Dass sie die Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919, bei der Frauen zum ersten Mal in Deutschland wählen durften, geradezu für sich kapert. Dass sie kurz zuvor in der Wochenzeitung Die Zeit im Gespräch mit der jungen ostdeutschen Autorin Jana Hensel mit gespielter Arglosigkeit erklärt: "Ich glaube, dass ich, je länger ich in der Politik bin, mein Frausein sogar offener thematisiere." Gelernt hat sie vielleicht auch aus der US-Wahl. "Hillary Clinton hat auf eine traditionelle Art versucht, Wahlkampf zu machen", sagt Hensel in dem Gespräch. "Dabei hat sie ihr Frausein kaum thematisiert. Das ist nicht mehr zeitgemäß. Barack Obama jedoch hat auf eine neue Art versucht, als Schwarzer Politik zu machen, und er hat es geschafft, seine Rolle zu verwandeln."
Neu ist schließlich auch, dass Merkel immer offener mit ihrer Identität als Ostdeutsche umgeht. "Es wird immer Dinge geben, die mich an den Osten, an mein Zuhause in der Uckermark erinnern", sagte sie vor Weihnachten der Zeitschrift Cicero. Um gleich hinterherzuschieben: "Wenn ich durch die alten Bundesländer reise, sehe ich viele Stadthallen, Schulen, Verwaltungsgebäude aus den Sechziger- und Siebzigerjahren, wohingegen im Osten vieles neu ist." Der Satz löste im Osten große Aufregung aus. In Wahrheit war es eher ein Affront gegen allzu selbstgewisse Westdeutsche, dass ihnen die Politikerin aus Templin generös Aufbauhilfe anbot.
Bis zur Bundestagswahl 2005 hatte es Merkel umgekehrt gemacht. Sie sprach nicht über Frauenthemen, mied alles Ostdeutsche, suchte die Konservativen in den eigenen Reihen zu befriedigen. Das Ergebnis war, dass die Kandidatin Merkel von weniger Frauen gewählt wurde als drei Jahre zuvor der Kandidat Edmund Stoiber. Dass sie bei jüngeren Frauen in Ostdeutschland auf gerade einmal 20 Prozent der Stimmen kam. Mit ihrer Verdruckstheit hatte Merkel die Frauen enttäuscht, ohne im Gegenzug die Männer zu gewinnen.
Daraus hat sie die Konsequenz gezogen. Geholfen hat ihr ausgerechnet Gerhard Schröder. Zuerst, als er Neuwahlen ausrief und damit Merkels Konkurrenten die Zeit nahm, ihr die Kandidatur streitig zu machen. Dann, als er mit seinem Auftritt am Wahlabend die Männerriege der CDU erneut an die Seite der Kanzlerin drängte - und den Machismo in der deutschen Politik endgültig desavouierte.
Darüber freuen sich auch SPD-Politikerinnen. "Frau Merkel moderiert das Kabinett anders als Herr Schröder", sagt Justizministerin Brigitte Zypries im Kanzleramt - um gleich hinterherzuschieben: "Aber Herr Steinmeier würde das Kabinett genauso moderieren wie Frau Merkel auch, weil sie von der Struktur her ähnlich sind."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht