Angehörige über Geiseln in Gaza: „Wir brauchen die Hilfe der Welt“
Am 7. Oktober wurde Alon Gats Schwester nach Gaza entführt. Seit mehr als 100 Tagen hat er nichts von ihr gehört. Doch er kämpft weiter um sie.
Alon Gat wurde am 7. Oktober während des Hamas-Überfalls auf Israel kurz entführt, doch konnte sich und seine Tochter in letzter Minute retten. Seine Frau Yarden Roman-Gat wurde erst nach mehr als 50 Tagen aus der Geiselhaft befreit; seine Schwester Carmel Gat wird noch immer festgehalten.
taz: Herr Gat, wie hat sich Ihr Leben seit dem 7. Oktober verändert?
Alon Gat: Für mich und meine Familie hat der Tag nie aufgehört. Mehr als fünf Monate sind seitdem vergangen, aber wir stecken immer noch mitten in den Ereignissen.
Unsere dreijährige Tochter Geffen sagt manchmal, während sie spielt: „Oh, wir müssen in den Schutzraum gehen, weil böse Menschen kommen.“ Ihr Leben beinhaltet jetzt das Wissen, dass jeder kommen kann, um sie zu packen, sie gegen ihren Willen mitzunehmen und andere Menschen zu ermorden und zu missbrauchen.
Alon Gat, 37, ist im Kibbutz Be'eri geboren und aufgewachsen. Er arbeitet als Projektmanager, aber hat diese Arbeit seit dem 7. Oktober auf Eis gelegt.
Seit dem 7. Oktober arbeite ich nicht mehr. Meine Arbeit besteht vielmehr darin, alles dafür zu tun, dass die Geiseln befreit werden. Ich treffe Influencer, israelische Minister, Politiker in der ganzen Welt, versuche, das große Ganze zu verstehen und wie ich einen Deal vorantreiben kann.
Sie selbst wurden am 7. Oktober aus dem Kibbutz Be’eri entführt.
Ja, um halb elf morgens am 7. Oktober brach die Hamas in unser Haus ein. Sie brachten meine Mutter nach draußen, fesselten ihre Hände und erschossen sie an der Straßenecke, zusammen mit fünf weiteren Menschen. Sie nahmen meine Schwester mit. Und kurz danach setzten sie meine Frau Yarden, unsere Tochter Geffen und mich in ein Auto und fuhren mit uns Richtung Gaza. 500 Meter vor der Grenze sahen wir unsere Chance zu fliehen und sprangen aus dem Auto. „Du kannst schneller laufen“, rief Yarden mir zu und drückte mir unsere dreijährige Tochter Geffen in den Arm. „Lauf!“, rief sie. Und das tat ich.
Sie haben sich versteckt.
Mit Geffen im Arm suchte ich nach einem Versteck, sie fingen an auf uns zu schießen, ich blickte zurück und sah, wie Yarden sich hinter einem Baum versteckte, das war – bis sie mehr als 50 Tage später befreit wurde – das letzte Mal, dass ich sie sah.
Ich fand ein kleines Erdloch im Boden, legte Geffen auf den Boden, legte mich auf sie und bedeckte mich mit Gestrüpp und Dornen. So blieben wir liegen, bis es dunkel wurde. Geffen sagte ich, dass wir ruhig sein müssen. Und das war sie. Dabei lagen wir auf dem dornigen Boden, es war heiß, und später, als es dunkel wurde, kalt.
Die ganze Zeit über hat sie sich nicht beschwert. Das ist einer der Gründe, warum wir überlebt haben. Nur einmal sagte sie mir, nach fast 24 Stunden ohne Wasser: „Schade, dass wir kein Wasser mitgenommen haben.“
Sie konnten sich, als es dunkel wurde, zur israelischen Armee im Kibbutz retten. Doch ihre Frau hatte die Hamas gefasst und wieder entführt. Sie war eine von etwas mehr als 100 Geiseln, die Ende November während der Feuerpause freigelassen wurde, gegen 240 palästinensische Gefangene.
Für mich und Geffen war es, als hätten wir unser Leben zurückgewonnen. Aber es war nicht vollständig, weil Carmel immer noch in Gefangenschaft ist – und wir bekamen Lebenszeichen von ihr durch andere freigelassene Geiseln, die gemeinsam mit Carmel gefangen gehalten wurden.
Was hörten Sie über Ihre Schwester?
Freigelassene Geiseln erzählten uns, dass sie Yoga-Stunden für die Mitgefangenen gegeben und mit ihnen Achtsamkeitsübungen gemacht hat. Sie haben gemeinsam Tagebuch geschrieben. Carmel ist eine Kümmerin, das ist ihre Essenz. Der Gedanke, dass sie jetzt allein in Gefangenschaft sein könnte, besorgt mich sehr. Wir wissen aus dem UN-Bericht und durch andere Beweise, dass die Hamas die Geiseln auch sexuell missbraucht, und sie foltert.
Carmel ist israelische und deutsche Staatsbürgerin. Sie versucen zum dritten Mal in Deutschland, politischen Druck aufzubauen, um die Geiseln freizubekommen. Was fordern Sie von Deutschland?
Deutschland macht schon eine Menge, aber es könnte noch mehr sein. Wir müssen sicherstellen, dass die Hamas nicht mehr als legitime Gruppierung betrachtet wird. Das hört man nicht jeden Tag. Wenn Leute sagen, dass es eine humanitäre Krise in Gaza gibt, ignorieren viele, dass die Geiseln Teil dieser humanitären Krise sind. In der Sekunde, in der die Geiseln frei sind, wird auch die humanitäre Krise aufhören. Sobald sie frei sind, kann man über den Wiederaufbau des Gazastreifens sprechen. Die Hamas hält noch immer die Waffe auf meine Schwester gerichtet.
Meine Frau erzählte mir nach ihrer Freilassung, dass die Hamas-Wächter zu ihr gesagt hätten, dass Israel nur der Anfang sei. Der Rest der Welt sei danach dran. Irgendwann fanden die Wächter heraus, dass sie deutsche Staatsangehörige ist. „Keine Sorge“, sagten sie ihr: „Wir haben einen Haufen Hamas-Leute in Deutschland.“ Wissen Sie, die Hamas zielt ja mit ihrer Agenda nicht nur auf Israel, Deutschland könnte das nächste Ziel sein.
Einigen Angehörigen von Geiseln geht die Geduld mit der israelischen Regierung aus. Sie glauben, dass Regierung nicht genug dafür tut, die Geiseln zu befreien.
Ich glaube nach wie vor, dass es in Israel und in der Regierung Konsens ist, dass die Geiseln so schnell wie möglich freigelassen werden müssen, und dass Israel tut, was es kann, um die Geiseln freizubekommen.
Seitdem die erste und letzte Feuerpause, die die Befreiung von Yarden beinhaltete, Anfang Dezember geplatzt ist, sind mehr als drei Monate vergangen. Haben Sie manchmal ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit?
Das können wir uns nicht erlauben. Ich habe das letzte Mal vor 110 Tagen von meiner Schwester gehört, aber ich bin mir sicher, dass sie lebt. Ich bin optimistisch – wissen Sie, warum? Weil ich weiß, dass es möglich ist. Weil Yarden zu uns zurückgekommen ist und ich weiß, dass es wieder geschehen kann. Aber wir brauchen die Hilfe der ganzen Welt, auch die von Deutschland, um mehr Druck auf die Hamas auszuüben, damit ein Abkommen zustande kommt.
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