An der Grenze zu Dänemark: Symbolischer Wildschweinzaun
Seit 2015 wird die Grenze zwischen Dänemark und Deutschland immer sichtbarer. Das einst so hyggelige Nachbarland hat sich verändert.
In Dänemark gab es fantastisches Eis, zum Beispiel eine Waffel, in der kopfüber ein Schokokuss steckte. Überhaupt war das Dänemark meiner Kindheit ein Ort voller Überraschungen, Legoland und Zukunftsland zugleich. Der Verkehr floss durch Kreisverkehre, statt sich an Ampeln zu stauen, die Menschen duzten sich und im Parlament regierten Minderheiten. Das heutige Zeitschriften-Modewort „hygge“ benutzte noch niemand, aber das Hygge-Gefühl lag über dem Dänemark meiner Kindheit wie der Geruch von Sonnenmilch und Pusteblumen.
War natürlich alles Quatsch. Die dänisch-deutsche Geschichte ist lang und streckenweise blutig. Die Fürstentümer Schleswig und Holstein sollten zwar laut einem Vertrag von 1460 „up ewich ungedeelt“ in Frieden zusammenleben, wurden aber von verschiedenen Herren regiert und waren Teil des Staates Dänemark.
Der war eine Großmacht und ständig in Konflikte verstrickt, die unter dem Sammelbegriff Nordische Kriege mit Unterbrechungen und in wechselnden Bündnissen von 1554 bis 1721 dauerten. Die letzte Auseinandersetzung drehte sich um die „Gottorfer Frage“: Welche Teile des heutigen Schleswig-Holsteins hielten zu welcher Großmacht? Dänemark siegte, bis es 1848 zur Schleswig-Holsteinischen Erhebung kam. Preußen-Österreich mischte sich ein, und 1866 wurden Schleswig und Holstein nicht frei, sondern zu preußischen Provinzen. Bis heute stehen Steine mit den Buchstaben DR und P für Deutsches Reich und Preußen an der Grenze.
Volksabstimmung über den Grenzverlauf
Deren Verlauf kam – ziemlich einmalig zwischen Staaten – per Volksabstimmung zustande. 1920 durfte die Bevölkerung wählen, ob sie dänisch oder deutsch sein wollte. Die neue Linie durchtrennte gewachsene Strukturen: Die deutsch geprägte Stadt Tondern wurde dänisch, das dänische Flensburg wurde Deutschland zugeschlagen.
Auf beiden Seiten blieben Minderheiten zurück, die bis heute ihre Sprache und Kultur pflegen. Während der NS-Zeit wurde auch Dänemark besetzt, die Erinnerung daran ist auf dänischer Seite wacher als auf der deutschen. 1955 schlossen das Königreich und die Bundesrepublik das Abkommen, das den Minderheiten in beiden Staaten politische Rechte einräumt. Der SSW vertritt die Interessen der dänischen, die Slesvigsk Parti die der deutschen Minderheit.
Die per Wahl bestimmte Grenze war durchlässig. Im Örtchen Rudbøl verläuft sie mitten auf der Straße, gegenüberliegende Häuser befinden sich in verschiedenen Staaten. Mini-Übergänge wie Bögelhuus und Siltoft liegen an Feldwegen, an denen schon immer Sonderregeln für Einheimische galten. Auch an den großen Durchgangsstraßen wurden Wagen mit örtlichem Autokennzeichen meist durchgewinkt.
Dieses Grænslandgefühl, dass Grenze nicht Beschränkung, sondern Erweiterung bedeutet, wollte ich 1990 meinem Freund von der Krim zeigen. Ich ließ ihn dänisches Eis probieren und brachte ihm „mange tak“, vielen Dank, bei. Auch auf der Rückfahrt öffnete sich für uns der Schlagbaum umstandslos – für Dima eine ganz neue Grenz-Erfahrung.
Billigparadies Deutschland
Nach dem Schengen-Abkommen verschwanden die Uniformierten, die Grenze wurde unsichtbar. Auf deutscher Seite siedelten sich Supermärkte und Tankstellen für dänische Kund*innen an, denn Deutschland ist aus dänischer Sicht ein Billigparadies.
Rückblickend ist schwer genau festzulegen, wann sich das hyggelige Legoland zu wandeln begann. Sichtbar wurde der Rechtsruck im Jahr 2015, als syrische Geflüchtete an der Grenze abgewiesen wurden und am Flensburger Bahnhof festsaßen. Als eine „Bürgerwehr“ an der grünen Grenze patrouillierte. Als Parteien mit nationalistischen Tönen in den Folketing einzogen.
Seit 2015 finden mit verschiedenen Begründungen Kontrollen an den Grenzübergängen statt. 2018 beschloss das dänische Parlament zudem, einen Grenzzaun gegen Wildschweine zu errichten, um die Schweinepest fernzuhalten. Allerdings gibt es im Norden Schleswig-Holsteins kaum Wildschweine, sodass der Zaun vor allem Symbolpolitik darstellt – tödlich für Tiere, die ihn nicht passieren können, traurig für die Menschen hüben wie drüben, denen nun ein Hindernis den Blick über das Grænsland versperrt.
Ob mein russischer Freund die Schönheit einer offenen Grenze zwischen gleichberechtigten Ländern wirklich begriffen hat, weiß ich nicht. Wir haben seit 2014 keinen Kontakt mehr, seit Russland die Krim annektierte und Dima das gut fand.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind