An der Front im Donbass: Wo Russlands Offensive erlahmt
In der Stadt Torezk hat die ukrainische Armee wieder Fuß gefasst und hält russische Angriffswellen zurück. Es tobt ein komplexer Drohnenkrieg.

„Sotka“ hält seit acht Monaten die Front im rund 20 Kilometer von Kostjantyniwka entfernten Torezk. In der strategisch wichtigen, bis vor kurzem noch größten, Frontstadt in der Region Donezk sind von einst 35.000 Einwohner*innen nur ein paar hundert übrig geblieben. Weite Teile der Plattenbauten im Zentrum der Bergbaustadt liegen in Trümmern.
Anfang Februar 2025 hatte Russland die Einnahme von Torezk gemeldet. Mittlerweile ist es den Ukrainern gelungen, in Torezk bestimmte Positionen wieder zurückzuerobern. Militärkarten zufolge halten die russischen Besatzer jetzt noch den südlichen Teil der Stadt.
Die Lage in Torezk ist bedrohlich, da die Russen versuchen, die ukrainische Logistik mithilfe von Artillerie und Drohnen zu stören sowie die ukrainischen Verteidigungsstellungen mit Infanterie zu zerstören. Rotationen ukrainischer Kämpfer sind kaum möglich. So war beispielsweise ein Soldat der 100. Brigade 77 Tage lang unterbrochen an vorderster Position im Einsatz.
„Stabil, aber schwierig“
Sergej Siywa, Kompaniechef von „Sotka“, ist in diesem Krieg bereits mehrfach verwundet worden, im Gesicht hat er eine große Narbe. Glywa redet hastig, mit Unterbrechungen, aber so deutlich wie möglich. Selbst während des Gesprächs kontrolliert er alles, was um ihn herum passiert.
„In Torezk ist die Situation stabil, aber schwierig. Wir versuchen, den Feind abzuwehren und ihn nicht weiter vorrücken zu lassen“, sagt er. Laut Glywa kontrollierten die Streitkräfte der Ukraine derzeit etwa 40 Prozent der Stadt sowie den gesamten Ballungsraum mit den umliegenden Dörfern.
Der Kommandant erläutert, dass die Kampftaktik der Russen der von Einheiten der ehemaligen „Wagner“-Gruppe ähnelt, als sie im Frühjahr 2023 nach monatelangen Kämpfen die Stadt Bachmut 25 Kilometer nordöstlich von Torezk eroberten. Der Preis für „Wagner“: 20.000 tote Kämpfer.
„Auch jetzt rücken die Russen in kleinen Gruppen ohne gepanzerte Fahrzeuge aus. Sechs bis acht Personen, oft erreichen maximal zwei den Zielort. Sie kommen nach und nach, über Wochen, Monate hinweg, zwei, drei, manchmal auch bis zu fünf Soldaten. Dann beginnen sie, unsere Stellungen zu stürmen“, sagt Glywa. Dabei spielten eigene Verluste für die Russen keine Rolle – auch was den Nachschub an der Front angeht.
„Sie laufen los wie Kamele und haben Patronen und Granaten in ihren Rucksäcken, aber keine Sturmgewehre. Sie bringen das Material, laden es ab wie befohlen, ziehen sich zurück, ruhen sich etwas aus und dann das Gleiche wieder von vorn“, sagt Glywa.
Die russischen Besatzer, so Glywa, tragen Zivilkleidung, um sich in der Stadt zu bewegen und sogar anzugreifen. Denn das ukrainische Militär, erläutert er, habe den Befehl, nicht auf Zivilisten zu schießen. „Wenn die Person wirklich ein Zivilist ist, wird sie sich verstecken. Ein russischer Soldat jedoch hat zu 100 Prozent eine Granate oder ein verkürztes Maschinengewehr dabei. Und er wird handeln.“
Als Zivilisten verkleidete Soldaten
Von sogenannten „Zivilangriffen“ der Russen berichtet auch der Schütze der Brigade, der 25-jährige Nazar mit dem Kampfnamen „Nazik“. Er dient hier seit sechs Monaten. Während dieser Zeit wurde er bei einem gezielten Drohnenangriff verwundet. Jetzt jedoch ist er wieder zurück an der Front. Nazar trägt trotz des kühlen Wetters einen militärischen Panama-Hut, er lächelt schüchtern, manchmal lacht er sogar, wenn er über schwierige Kampfsituationen spricht.
„Der Trick, den die Russen anwenden, ist folgender: Ein Mann geht in Zivil die Straße entlang. Er tut so, als rufe er seinen Hund. Wir behalten ihn im Auge. Es gibt nur noch wenige Zivilisten in der Stadt. Doch per Funk heißt es, er sei bereits an unserem Fenster und wolle eine Granate werfen. Aber wir sind schneller. Du hast nicht das Recht, einen Zivilisten zu töten. Aber wenn du schon siehst, dass er ein Maschinengewehr oder eine andere Waffe trägt, dann ist das etwas anderes“, erzählt Nazar.
Die Soldaten sagen, es sei einfacher, im Stadtgebiet zu kämpfen. Allerdings müsse immer mit Drohnen gerechnet werden. Kompaniechef Glywa spricht von einem „Guerillakrieg“, weil die vordersten Stellungen gezwungen seien, zunächst im Hinterhalt zu bleiben, um nicht von feindlichen Drohnenbesatzungen gesehen zu werden. „Du bist in einem Gebäude und der Feind ist 50 Meter entfernt. Du musst still sitzen, damit er dich nicht entdeckt. Wenn der Feind dich zuerst entdeckt, zerstört er deine Position. Wenn nicht, sind wir die Ersten“, sagt er.
Mit dem Einmarsch im 24. Februar 2022 begann der groß angelegte russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Bereits im März 2014 erfolgte die Annexion der Krim, kurz darauf entbrannte der Konflikt in den ostukrainischen Gebieten.
Drohnen, ein Fachgebiet für sich
Laut Glywa sind die Russen in Torezk derzeit bei Drohnen klar im Vorteil. Am häufigsten setzten sie FPV-Drohnen ein - First Person View, eine Technologie, bei der der Bediener genau sieht, wohin die Drohne fliegt – zunehmend auch per Glasfaser gesteuert. Diese seien immun gegen Störsender und auch mit guten elektronischen Kriegsführungssystemen nur schwer zu bekämpfen.
FPV-Drohnen seien im Stadtgebiet weniger effektiv als im offenen Gelände. Allerdings hätten die Russen gelernt, Unterstände auf andere Weise zu zerstören. Eine Drohne wirft zum Beispiel mehrere Panzerabwehrminen (TM) auf ein Gebäude oder einen Schutzraum ab und löst dann den Zünder aus. Durch die Explosion würde das Gebäude fast vollständig zerstört. „Diese TMs machen ihren Job“, sagt Glywa.
Nazik fügt hinzu, dass man sich vor einer russischen Drohne verstecken könne. Die Russen setzten jedoch mehrere Drohnen gleichzeitig ein und seien in der Lage, jedes Gebäude zu zerstören. Heutzutage könnten Drohnen auch große Mengen an Sprengstoff transportieren.
Mittlerweile werden Evakuierungen aus Torezk immer schwieriger. Sie erfolgen entweder nachts oder bei schlechtem Wetter. Russische Truppen kontrollieren Zufahrtsstraßen, umgehen Straßen aus der Ferne und machen sie mit Drohnen unsicher. Gleichzeitig haben die ukrainischen Verteidigungskräfte neue Möglichkeiten zur Evakuierung von Verwundeten. Dabei kommen insbesondere unbemannte Technologien zum Einsatz – Boden- und Luftdrohnen.
„Es gibt kleine selbstfahrende Autos mit Fernbedienung. Eins davon fuhr auf einen unserer Soldaten zu, er schaffte es hinein, ist aber verblutet. Im Einsatz sind auch Fledermausdrohnen (fast zwei Meter Durchmesser), aber man braucht jemanden, der den Verwundeten daran befestigt. Dann kann er in die Nähe eines Autos gebracht werden, das ihn weiter transportiert“, sagt Glywa.
Waffenstillstand? Unsinn
Der ukrainische Kompaniechef glaubt übrigens nicht, dass die Russen im Falle eines Waffenstillstandes ihre Absicht, Torezk einzunehmen, aufgeben werden. Moskau werde einen Waffenstillstand bloß nutzen, um sein Personal so massiv wie möglich neu aufzustocken und sich auf einen neuen Angriff vorzubereiten.
„Aber wir schlafen auch nicht“, versichert er. So könnten lokale Gegenangriffe mithilfe benachbarter Feuerunterstützungseinheiten durchgeführt werden. Sollte Torezk jedoch fallen, würden die Städte Kostjantyniwka und Druschkiwka angegriffen werden und die russische Armee könne tiefer vorstoßen.
Hier, in Richtung Torezk, glaubt jedoch kaum jemand ernsthaft an eine Feuerpause oder einen Waffenstillstand. In der Brigade „Sotka“ setzt man auch auf das Prinzip Hoffnung: Russisches Militär, das im Falle eines Waffenstillstands aus der Ukraine abgezogen würde, werde die Russische Föderation von innen heraus zerstören. Wladimir Putin wisse das und werde das daher nicht zulassen.
Aus dem Russischen Barbara Oertel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Wehrpflicht-Debatte
Pflicht zu „Freiheitsdienst“
Immer mehr Kirchenaustritte
Die Schäfchen laufen ihnen in Scharen davon
Rechtsextreme Symbolik
Die Lieblingsblumen der AfD
Trumps Gerede über eine dritte Amtszeit
Zerstörung als Strategie
Klaus Wowereit wird Kulturstaatsminister
Ein guter Move?
Debatte über ein Jahr Cannabisgesetz
Einmal tief einatmen, bitte