Amtsenthebungsverfahren in den USA: Verstörende Szenen aus dem Kapitol
Mit schockierenden Videos geht die Anklage in den ersten Tag des Prozesses. Die Rekonstruktionen zeigen, wie zielstrebig die Eindringlinge waren
Die 100 US-SenatorInnen, von denen die meisten am 6. Januar nicht ahnten, dass die Eindringlinge, die mit Schusswaffen, Tasern und Metall-Knüppeln durch das Kapitol rannten, nur wenige Schritte von ihnen entfernt waren, sitzen mucksmäuschenstill in ihren Sesseln, als die AnklägerInnen aus dem Repräsentantenhaus am Mittwoch immer neue, brutale Details liefern. Die TV-Kameras, die das Impeachment-Verfahren live übertragen, sind ausschließlich auf das Redner-Pult gerichtet.
Aber ReporterInnen im Saal sehen PolitikerInnen beider Parteien, die beim Zuhören den Atem anhalten. Andere, die nervöse Zuckungen im Körper haben. Und einen Kapitolspolizisten, der seinen Blick an die Decke heftet, um seine Tränen zu stoppen.
Die Demokratin von den Jungferninseln Stacey Plaskett hält am Mittwochnachmittag eine von zahlreichen aufrüttelnden Reden. Wie die anderen demokratischen AnklägerInnen spickt sie ihre Rede mit Videos. Die stummen Aufnahmen aus den Überwachungskameras des Kapitols ergänzt sie mit Lageplänen zu den Positionen der Eindringlinge.
Eindringlinge hatten hochrangige Personen im Visier
Die Rekonstruktionen des Tathergangs zeigen, wie zielstrebig die Eindringlinge waren. Sie hatten beide Kammern des Parlaments im Visier sowie die nach Trump höchstrangigen Personen in der politischen Hierarchie. Die Videos zeigen auch, dass die Stürmer sich auf einer Mission für Präsidenten wähnen. „Wir wollen Donald Trump“, skandieren sie. Einer kleinen Gruppe von Polizisten, die sich ihnen entgegen stemmen, drohen sie: „Euer Boss schickt uns“.
Die AnklägerInnen wollen die Öffentlichkeit im Land und die RepublikanerInnen im Senat davon überzeugen, dass Ex-Präsident Trump verantwortlich ist. Um ihn im Amtsenthebungsverfahren zu verurteilen und um ihm das Recht auf künftige öffentliche Ämter entziehen zu können, brauchen sie die Stimmen von mindestens 17 RepublikanerInnen im Senat. Bislang sind sie davon weit entfernt.
Die AnklägerInnen beschreiben den Sturm auf das Kapitol als das Ergebnis einer monatelangen Vorgeschichte. Der Ex-Präsident spielte darin die zentrale Rolle. Seit dem Frühling des letzten Jahres hat er seine Basis auf „gefälschte Wahlen“ und auf „das größte Wahldesaster der Geschichte“ vorbereitet. Während seine eigene Popularität sank, behauptete Trump, dass er die Wahlen nur verlieren könne, wenn es „Manipulationen“ gäbe.
Nach dem 3. November intensivierte er seine Kampagne. Er wartete auf Twitter und bei öffentlichen Auftritten mit täglich neuen Geschichten auf. Erfand „illegale Stimmen“, redete von „Toten, die gewählt haben“ und von „Müllhalden von weggeworfenen Stimmzetteln“. Am Mittwoch sagt der Demokrat und Mitglied des Anklageteams, Eric Swalwell, dem Senat: „Alles war recht, um die Wut anzustacheln.“
Schlachtrufe stammten aus Trumps Repertoire
In den zwei Monaten vor dem Tag, an dem Joe Biden mit mehr als sieben Millionen Stimmen Vorsprung gewann, marschierten von Trump aufgewiegelte bewaffnete AnhängerInnen nachts vor Privatwohnungen von WahlbeamtInnen auf und belagerten Wahlzentren in den entscheidenden Swingstates. Ihre Schlachtrufe stammten unmittelbar aus dem Repertoire von Trump. Sie skandierten: „Stoppt den Diebstahl“ und „Stoppt die Auszählung“.
Die Ergebnisse der Briefwahl, an der sich fast nur demokratische WählerInnen beteiligt hatten, wollten sie nicht anerkennen. Parallel fochten die Anwälte des Präsidenten die Wahlergebnisse vor Dutzenden von Gerichten an. Trump bedrängte republikanische PolitikerInnen in einzelnen Bundesstaaten, die Wahlergebnisse in seinem Sinne zu frisieren.
Kurz vor Jahresende begann Trump damit, seine AnhängerInnen aufzufordern, zum 6. Januar nach Washington zu kommen. „Es wird wild“, versprach er. Als Mitte Dezember schon einmal Tausende seiner UnterstützerInnen in der US-Hauptstadt gegen das Wahlergebnis demonstrierten, dankte er den „Patrioten“. Und schwieg dazu, dass einer ihrer Sprecher an dem Tag zur „Zerstörung der Republikanischen Partei“ aufrief und dass am Ende der Demonstration Mitglieder der radikal rechten Gruppierung Proud Boys Straßenschlägereien und Angriffe auf schwarze Kirchen in Washington anzettelten.
Trump kennt seine Basis, sagte Anklägerin Plaskett am Mittwoch vor dem US-Senat. Der Ex-Präsident habe gewusst und gewollt, dass sie wütend, aggressiv und bewaffnet ist. Und es sei auch keine Überraschung für ihn gewesen, was sie am 6. Januar in Washington vorhatten. Denn seine MitarbeiterInnen hätten die Webseiten und Chat-Rooms der Rechten sorgfältig beobachtet.
Sie diskutierten vorher online Lagepläne des Kapitols
Dort diskutierten Trump-AnhängerInnen Lagepläne des Kapitols, die eigene Bewaffnung und die geplante Gewalt gegen SpitzenpolitikerInnen. Dort schreiben sie: „Bringt Handschellen mit.“ Und: „Das Kapitol ist unser Ziel.“ Sie empfahlen: „Bereitet euch auf Krieg vor.“ Die Gruppe „Frauen für Trump“, die offiziell zu der „Rettet-Amerika-Demonstration“ am 6. Januar aufgerufen hatte, sprach von der Ankunft von „Trumps Kavallerie“ in Washington.
Was passiert ist, „war kein Zufall“, sagt Anklägerin Plaskett dem Senat: „Es war Absicht. Donald Trump hat es monatelang vorbereitet. Ohne ihn hätte dieser Angriff nicht stattgefunden.“ Chef-Ankläger Jamie Raskin fasst das zusammen: Trump ist der „Chef-Aufwiegler“.
Bei seiner letzten Rede vor dem Angriff auf das Kapitol forderte Trump am Mittag des 6. Januar seine AnhängerInnen auf, zum Kapitol zu ziehen, um die „schwachen Republikaner“ und seinen Vizepräsidenten dazu zu bringen, „das Richtige zu tun“. Er ermunterte sie, „bis zur Hölle“ zu kämpfen und versprach, dass er selbst nie aufgeben und nie seine Niederlage eingestehen werde.
Selbst nach diesen Worten hätte er die tödliche Gewalt im Kapitol noch verhindern können. Ein Wort des Ex-Präsidenten – darin waren sich am 6. Januar VertreterInnen beider Parteien einig – hätte den Sturm auf das Kapitol gestoppt. Doch Trump ignorierte die Appelle der gewählten PolitikerInnen, die ihn aus ihren Verstecken im Kapitol anflehten, ein Machtwort zu sprechen. Am Mittwoch sagt der texanische Demokrat und Ankläger Joaquin Castro vor dem Senat: „Er wollte nicht, dass sie das Kapitol verließen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung