Hundert Jahre Neues Frankfurt: Am Menschen orientiert
Das Neue Frankfurt setzte Maßstäbe für eine moderne und soziale Gestaltung der Stadt. Ein Blick auf die Mainmetropole und aktuelle Ausstellungen.

Entsprechend ambitioniert wurde das Projekt angegangen. Binnen fünf Jahren entstanden 12.000 neue Wohnungen, viele davon außerhalb der Innenstadt, in praktischer Modulbauweise. „Frankfurt organisierte, finanzierte, realisierte die Lösung sozialer Probleme, wie Wohnungsmangel und Investitionsstau, auf einem hohen Gestaltungsniveau,“ sagt Grit Weber, stellvertretende Direktorin und Kuratorin am Museum Angewandte Kunst, im taz-Gespräch.
„Die meisten Gebäude“, so führt Weber weiter aus, „sind bis heute im Dienst, und die meisten Menschen wohnen gern in den Wohnungen und Häusern von damals, weil die Siedlungen bis heute eine großzügige Außenraumgestaltung mit viel Grün und sehr viel Wohnqualität anbieten.“
Das Neue Frankfurt war tatsächlich ein zugleich baukulturelles wie künstlerisches und sozialpolitisches Gesamtvorhaben. Selbst die grafische Neugestaltung des Stadtwappens gehörte zum Programm. Die Frankfurter Küche, Urtyp der modernen Einbauküche, gestaltet von Margarete Schütte-Lihotzky, befindet sich längst in der Designsammlung des New Yorker MoMa. In der Ernst-May-Siedlung kann man heute noch den Einfamilienhaus-Prototyp besichtigen, am Bornheimer Hang die fortwährend modern wirkenden Wohnhäuser von vor einem Jahrhundert bestaunen.
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Alle Lebensbereiche im Blick
Doch gerade in der Omnipräsenz liegt die Gefahr, nur oberflächlich hinzublicken. Selbst in der Region mag das Schlagwort „Bauhaus“, das im selben Jahr Jubiläum feiert, noch immer einen viel gewichtigeren Klang haben. Dabei war das Neue Frankfurt nicht primär eine gestalterische Schule, sondern ein umfangreiches Stadtplanungsprojekt, das etliche Lebensbereiche umfasste und somit tatsächlich beim Menschen ankam.
Ein Besuch im Museum Angewandte Kunst empfiehlt sich als Einstieg ins Jubiläumsjahr. „Was war das neue Frankfurt?“, führt in 16 Fragen kompakt in das Stadtplanungsprogramm ein.
Neben Infos zu den Begründern (unter anderem SPD-Oberbürgermeister Ludwig Landmann, Stadtbaurat Ernst May) und weiteren Beteiligten (Max Bromme, Margarete Schütte-Lihotzky, aber auch Max Beckmann) lässt sich nachlesen, wie das Vorhaben finanziert wurde (durch die damalige Hauszinssteuer), welche bedeutsame Rolle die Frauen des Neuen Frankfurt spielten und ob sich eine Arbeiterfamilie so eine Wohnung überhaupt leisten konnte (kurze Antwort: Jein).

„Yes, we care“
Beide Schauen schärfen das Bewusstsein dafür, dass Stadtgestaltung keine Frage allein der Ästhetik ist. Dass sich weder Haus noch Kinderwiege aus dem Nichts materialisieren. Mit der Ausstellung „Yes, we care. Das Neue Frankfurt und die Frage nach dem Gemeinwohl“ wird der Begriff der Care-Arbeit auf den Bereich der Stadtgestaltung angewandt. Eine zwingende Entscheidung, sagt Kuratorin Weber: „Für mich war der Begriff nie allein im häuslichen Bereich wirksam. Das Private ist politisch und Arbeit – darum handelt es sich ja bei Care – war und ist gesellschaftspolitisch.“
Das Thema in einem Museum für Angewandte Kunst zu platzieren, begründet sie mit dem Aspekt des Social Design. „Also Gestaltungslösungen, die das Gemeinwohl in den Blick nehmen und dabei nicht nur materielle Produkte hervorbringen, sondern gesellschaftliche Strukturen schaffen: Genossenschaften, Projekte, Initiativen, ja sogar Protestgruppen, wenn sie das Wohl vieler zum Ziel haben.“
In der Ausstellung wird deutlich, wie groß das Neue Frankfurt schon vor 100 Jahren gedacht war. Neben Wohnbauten für Familien oder alleinstehende und berufstätige Frauen gehörten Einrichtungen für kranke und alte Menschen, Spielplätze oder Kulturstätten zum Programm.
Geplant, wenn auch erst später realisiert, wurden zum Beispiel Schwimmbäder, eine Kunstschule, die Zentralbibliothek, Wohnheime für Studierende oder Gemeinschaftshäuser – eine überraschende Entdeckung auch für die Kuratorin. Ebenso, welchen hohen Stellenwert die Pflege- und Wohlfahrtstätigkeit gesellschaftlich genoss. Oder auch, auf welch hohem professionellen Niveau die jüdische Krankenpflege in den 1920er Jahren in Frankfurt gearbeitet hat.
Jüdische Persönlichkeiten
Ob es nun einen Zusammenhang zwischen der jüdischen Tradition der Pflege von Gemeinsinn und dem Modernisierungsvorhaben des Neuen Frankfurt gegeben hat, das fragt aktuell das Jüdische Museum auf der anderen Seite des Mains.
Denn tatsächlich war ein Großteil jener Persönlichkeiten, die das Neue Frankfurt initiiert und vorangetrieben haben, jüdisch – unter anderem Landmann, May oder der Architekt und Designer Ferdinand Kramer. Dieser Umstand wird gewöhnlich allenfalls kurz erwähnt. Das säkulare Judentum war ja geradezu unsichtbar geworden, zumindest dem Anschein nach. Mit dem Nationalsozialismus sollte sich zeigen, dass ebenjene Säkularisierung oder gar Christianisierung keine Rolle mehr spielten für den antisemitischen Wahn.
Vor dem Jüdischen Museum begegnet man einigen ProtagonistInnen jetzt in Lebensgröße. Pappaufsteller verweisen auf einen Pop-up-Parcours, der sich durchs gesamte Haus zieht. Auch Künstlerinnen trugen zum Gesamtprojekt bei – wie die Fotografin Ilse Bing oder die Künstlerin Erna Pinner, deren fantastische Tierillustrationen man hier schon vor einigen Jahren in der Schau „Zurück ins Licht“ entdecken konnte.
Viele ProtagonistInnen des Neuen Frankfurt waren im Exil, gewaltsam vertrieben, verfolgt oder gerade rechtzeitig ausgereist. Mit ihnen gingen bahnbrechende Ideen – und ein Blick auf das Gemeinwohl, der in dieser Form nicht wiederkehren sollte.

Raum für Utopien
Im Jubiläumsjahr stehen in Frankfurt noch weitere Ausstellungseröffnungen an. Das Deutsche Architekturmuseum wird fantastische Stadtmodelle präsentieren. Im Museum Angewandte Kunst geht es im Herbst mit einem Jazz-Schwerpunkt weiter, ebenfalls einst Zeichen der Moderne am Main.
Wohnraummangel ist in den Städten derzeit die globale Herausforderung schlechthin, neben dem Klimawandel. Im Historischen Museum Frankfurt sollen beide Aspekte zusammen betrachtet werden. „Alle Jahre Wohnungsfrage. Vom Privatisieren, Sanieren und Protestieren“ nimmt den Abgesang auf die Wohngemeinnützigkeit 1990 in dieser Stadt zum Anlass für eine kritische Betrachtung ab Mitte Juni, die in einem Stadtlabor auch Raum für konkrete Utopien schaffen soll.
Wird der Neubau von Wohnraum, so ökologisch er geplant sein mag, nun aber Emissionen, Mangel an Frischluft und Grünflächen nicht zwangsläufig erst einmal verschärfen?
„Ja, das ist die Crux“, bestätigt Katharina Böttger, die die Schau gemeinsam mit Angelina Schäfer, Noah Nätscher und Tabea Latocha konzipiert hat. „Wir wollen mit der Ausstellung einen Diskursraum eröffnen und nicht die eine Lösung präsentieren. Erstmal ist es wichtig, mit den Bestandsgebäuden, die wir haben, gut umzugehen, sie instand zu halten und im Bestand Lösungen für den Siedlungs- beziehungsweise Wohnungsbau von morgen zu planen.“
Schön, bezahlbar und klimagerecht
Für Angelina Schäfer soll es in dieser Schau ums Ganze gehen: „Wir verbinden die Forderungen nach klimagerechtem, bezahlbarem und städtebaulich ansprechendem Wohnen mit dem zunehmenden Wunsch nach Mitbestimmung und Demokratisierung. Bei einem Großteil der Instrumente geht es um politischen Willen.“
Instrumente, dem Wohnraummangel akut zu begegnen, sollen in der Ausstellung ebenfalls vorgestellt werden. Es verspricht bei aller Utopie, konkret genug zu werden.
Grit Weber kannte das Neue Frankfurt gut. Trotzdem hat sie noch einiges während der Vorbereitung auf die Ausstellungen im Museum Angewandte Kunst überrascht. Neben den bereits erwähnten Aspekten vor allem dies: „Mit welcher Energie und welchem Pragmatismus die soziale Not gemildert werden sollte. Von diesem Optimismus könnten wir heute auf jeden Fall mehr gebrauchen.“
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