Altersuntersuchungen bei Flüchtlingen: Sag mir erst, wie alt du bist
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge kommen oft ohne Papiere. Der Staat versucht ihr Alter zu schätzen – teilweise mit fatalen Folgen.
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge genießen mehr Rechte als volljährige. Sie haben Anspruch auf eigenen Wohnraum, Bildung, rechtliche Vertretung und Gesundheitsversorgung. Wer unter 16 ist, bekommt einen rechtlichen Vormund zur Seite gestellt, der den komplexen Asylprozess begleitet. 16- bis 17-Jährigen blieb dieses Recht bislang oft verwehrt. Ein neues, vom Familienministerium erarbeitetes Gesetz sieht vor, diese Altersgrenze auf 18 Jahre anzuheben. Der Altersschätzung kommt somit eine tragende Rolle im Asylverfahren zu.
Viele Flüchtlinge kommen ohne Papiere in Deutschland an. Fluchthelfer behalten diese ein oder raten dazu, die Papiere zu vernichten. Und selbst wenn Papiere vorhanden sind, werden diese wie im eingangs erwähnten Fall von Behörden angezweifelt. Die Prozedur der Altersschätzung differiert von Bundesland zu Bundesland. Auch innerhalb der Landesgrenzen unterscheiden sich die Methoden. Wie uneinheitlich die Verfahren sind, zeigt die Antwort der Bundesregierung auf eine große Anfrage von Grünen-Abgeordneten zur Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge (Drucksache 18/5564 – Frage 109).
Das Hamburger Verfahren gilt vielen Behörden als Vorbild. Zunächst werden die Geflüchteten von zwei Sozialpädagogen begutachtet. Anhand einer Checkliste (Bartwuchs, Stirnfalten et cetera) versuchen sich die Mitarbeiter in der Altersschätzung. Tauchen Zweifel auf, wird das Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) hinzugezogen. Dort findet eine Anamnese und eine zahnärztliche Untersuchung statt. Wenn nötig, wird der Handknochen geröntgt.
Umstrittene Praxis
Die Praxis ist umstritten. Zur Anamnese gehört die Betrachtung der Genitalien. Das Schamgefühl der jungen Menschen wird ignoriert. Auch die Röntgenmethode steht in der Kritik. Drei Kinderärzte veröffentlichten im vergangenen Jahr einen Artikel im Deutschen Ärzteblatt, der sich gegen diese Methode aussprach. Auch bei vollständigem Schluss der Wachstumsfugen sei ein chronologisches Alter von unter 18 Jahren möglich, hieß es dort. Und weiter: „Röntgen und CT verursachen eine nicht verantwortbare Strahlenbelastung ohne Vorliegen einer rechtfertigenden Indikation.“
Einer der Autoren des Artikels, Klaus Mohnike, Leiter des Bereichs Pädiatrische Endokrinologie und Stoffwechsel am Universitätsklinikum Magdeburg, sagt: „Es gibt kein idealtypisches Verfahren zur Altersschätzung. Man kann nur die Reife feststellen: Ist derjenige vor der Pubertät, in der Pubertät oder nach der Pubertät, daraus lässt sich aber nicht auf das Alter schließen.“
„Wir geben das Mindestalter an“, erläuterte Klaus Püschel, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin des UKE, im Januar gegenüber der taz. Das sei das diagnostizierte Alter minus zwei Jahre. Mit seinem Kollegen Michael Tsokos, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin der Charité, schrieb er einen Leserbrief als Antwort auf den Ärzteblatt-Artikel. Er warf den Kollegen unter anderem vor, den aktuellen Forschungsstand zu vernachlässigen.
Zum Forschungsstand gehört allerdings auch die Erkenntnis, dass das Asylverfahren für Traumatisierte eine weitere Traumasequenz darstellen kann. Insbesondere die Altersschätzung stelle einen Belastungsfaktor dar, so eine Studie der Traumapädagogin Brigitte Hargasser. Das deckt sich mit der Tatsache, dass viele geflüchtete Jugendliche nicht über das während der Altersschätzung Erlebte sprechen wollen.
Im Falle des jungen Menschen aus Gambia bereitet seine Anwältin nun eine Verfassungsbeschwerde vor. Mehrere Dokumente aus dem Heimatland würden die Minderjährigkeit belegen. „Es wären nur ein paar Telefonate nach Gambia nötig“, sagte die Anwältin dem epd.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise der Linkspartei
Ein Tropfen reicht, um das Fass zum Überlaufen zu bringen
Ende des Brics-Gipfels
Guterres diskreditiert die Vereinten Nationen
Getötete Journalisten im Libanon
Israels Militär griff Unterkunft von TV-Team an
Wissings Verkehrsprognose 2040
Auto bleibt wichtigstes Verkehrsmittel
Freihandel mit Indien
Indien kann China als Handelspartner nicht ersetzen
+++ Nachrichten im Nahost-Konflikt +++
Libanon-Konferenz sagt eine Milliarde Dollar zu