Altersbestimmung bei jungen Geflüchteten: Falsches Misstrauen

Junge Geflüchtete müssen sich untersuchen lassen, wenn ihre Minderjährigkeit bezweifelt wird. In Hamburg bestätigte sich 2021 kein einziger Verdacht.

Ein Radiologe schaut sich ein Röntgenbild der linken Hand eines 13-Jährigen an.

Wird zur Altersfeststellung durchgeführt: Röntgenbild der Hand wie hier in Friedrichshafen Foto: Felix Kästle/dpa

HAMBURG taz | Alle Zweifel waren unberechtigt: Die 42 jungen unbegleiteten Geflüchteten, deren Minderjährigkeit in diesem Jahr in Hamburg infrage gestellt wurde und die sich daher einer Untersuchung unterziehen mussten, sind unter 18 Jahre alt. Das ergibt sich aus einer Antwort des Senats auf eine Anfrage der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft.

Die medizinische Altersfeststellung wurde damit bei zehn Prozent der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten durchgeführt; insgesamt seien in diesem Jahr 442 in Hamburg in Obhut genommen worden, heißt es in der Antwort weiter. Kein einziges Mal stellte die Rechtsmedizin des Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Volljährigkeit fest. In elf der Fälle mussten die Betroffenen Widerspruch einlegen gegen eine zunächst andere Entscheidung.

Carola Ensslen, flüchtlingspolitische Sprecherin der Linken in der Hamburgischen Bürgerschaft, findet das Vorgehen nicht okay, welches angewandt wird, wenn Geflüchtete keine Dokumente besitzen, aus denen sich ihr Alter zweifelsfrei ergibt. „Es ist ein vorprogrammiertes Misstrauen. Es wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass etwas Falsches gesagt wird.“ Das Verfahren sei belastend und nur „ausnahmsweise bei erheblichen Zweifeln gerechtfertigt“ – jedoch nicht angemessen für den Regelfall. Zehn Prozent untersuchte Jugendliche findet sie zu viel. Und die erfolgreichen Widersprüche zeigten, dass zu Unrecht gezweifelt worden sei.

Die Volljährigkeit ist für junge Geflüchtete ein zukunftsweisender Moment, da ab dem 18. Lebensjahr eine andere Behandlung vorgesehen ist und auch das Dublin-Verfahren greift. Dieses besagt, dass Geflüchtete in das europäische Land zurückgeschickt werden können, in dem sie zuerst registriert wurden. Der Flüchtlingsrat Hamburg ist gegen das Verfahren: „Jeder muss die Wahl haben, in welches Land er oder sie gehen kann“, sagt Cornelia Gunßer. Sie ist Mitglied des Flüchtlingsrates und Landeskoordinatorin vom Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge.

Carola Ensslen,Linksfraktion Hamburg

„Das Verfahren ist belastend und nur ausnahmsweise bei erheblichen Zweifeln gerechtfertigt“

Die möglichen Folgen der Altersbestimmung können bei eingeschätzter Volljährigkeit gravierend sein, sagt Gunßer. „Das Üble ist, dass diese Geflüchteten alle ihre Rechte als Jugendliche verlieren. Sie können nicht mehr zur Schule gehen, müssen in großen Lagern wohnen und die meisten werden aus Hamburg wegverteilt.“

Hinzu käme, dass die Untersuchungen zur Altersfeststellung keine hundertprozentige Sicherheit geben könnten, so Gunßer. „Eine Altersfeststellung gibt es nicht, auch medizinisch nicht. Es gibt nur Alterseinschätzungen. Bei Unsicherheiten muss zu Gunsten des Betroffenen entschieden werden.“ Das fordert auch Ensslen von der Linken.

Die für das Verfahren zuständige Sozialbehörde und der Landesbetrieb Erziehung und Beratung sagen, dass dies bereits geschehe: „Zweifel werden zu Gunsten des Betroffenen ausgelegt, das heißt es wird jeweils das nach dem Gutachten geringste Lebensalter angenommen“, sagt die Sprecherin der Sozialbehörde, Anja Segert, die der taz für beide Behörden antwortet.

Durch die Untersuchung bestehe der Erfahrung nach keine Gefahr der Retraumatisierung: „Die Beteiligten gehen sehr sensibel mit den jungen Menschen um.“ Die zu Untersuchenden würden immer von Mitarbeitenden des Kinder-und Jugendnotdienstes sowie einem Dolmetscher begleitet; optional auch von einem rechtlichen Beistand oder einer Vertrauensperson.

Die Untersuchungen seien in der Regel schmerzfrei und stellten keinen erheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit dar. Dass in 2021 kein Zweifel durch eine Untersuchung bestätigt wurde, werde laut Segert nichts an der Prozedur ändern.

Cornelia Gunßer war vor einigen Jahren bei Untersuchungen als Begleiterin dabei und kann den sensiblen Umgang nicht ausnahmslos bestätigen. Sie habe mitbekommen, dass die Betroffenen nicht verstehen, warum sie untersucht werden, ohne krank zu sein.

Entwürdigende Untersuchungen

Sie habe auch schon von Fällen gehört, bei denen sich beispielsweise weibliche Geflüchtete vor männlichen Ärzten nackt hatten ausziehen müssen. Dass inzwischen durchgesetzt wurde, dass pädagogische Fachkräfte und Dol­met­sche­r*in­nen beteiligt sind und den Betroffenen erklärt wird, wie Widerspruch möglich ist, sieht sie als Verbesserung.

Auch für Menschen, die 18 Jahre oder wenig älter sind, sieht Ensslen das Dublin-Verfahren kritisch: „So junge Menschen zurückschicken zu wollen, finde ich angesichts oft schwieriger Fluchtwege schikanös. Man will sich der Leute entledigen.“ Auch ein 18-Jähriger brauche Betreuung und Unterstützung. Selbst wenn also jemand fälschlicherweise minderjährig geschätzt würde, sei dies „kein Weltuntergang“.

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