Altern und Altsein: An der Zitronentafel des Lebens
In „Die Reisende der Nacht“ klagt Laure Adler die gesellschaftliche Missachtung der Ältesten an. In Frankreich ein Thema, das gerade entdeckt wird.
Jederzeit, warnt die Autorin, kann es so weit sein. Es kann „eines schönen Tages beim Aufwachen passieren, oder wenn eine unerklärliche Müdigkeit Sie überkommt oder wenn Sie an einer Straßenbiegung versehentlich in einer Schaufensterscheibe Ihre eigene Silhouette erkennen, die gebeugter ist, als Sie glaubten“.
Dann ist man alt – und damit Bewohnerin eines Landes, das zwar immer größer wird (schon jetzt sind über 15 Millionen Menschen in Frankreich über sechzig Jahre alt), dessen Bevölkerung aber in den meisten, und nicht nur den westlichen Gesellschaften missachtet und sozial abgesondert wird.
Die französische Feministin Laure Adler führt gedanklich Simone de Beauvoirs Ende der 1960er erschienenes Werk „Das Alter“ fort – und stellt fest, dass sich die Befunde vom Altern als „geheimer Schande“, mit einer umfassenden gesellschaftlichen Geringschätzung der Alten und zunehmender finanzieller Ungleichheit, noch verschlimmert haben.
Katastrophales Leben
Laure Adler: „Die Reisende der Nacht. Über das Altern“. Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer. Edition Tiamat, Berlin 2023, 184 Seiten, 30 Euro
Altern, so stellt Adler fest, bedeute heutzutage für die meisten, die sich keine teure Pflege erkaufen können, „Pech und Herabsetzung, und für die Schwächsten ein katastrophales Leben“. Frauen treffe es am härtesten, sie seien nicht nur öfter arm, sondern vom Verdikt des Hässlich-und-nutzlos-Seins auch noch stärker betroffen als Männer.
Adlers Essayband „Die Reisende der Nacht“ ist eine intellektuelle Erkundung der Erfahrung des Alterns und des Altseins. Zugleich ist das Buch auch eine politische Anklage und eine kämpferische Einladung, sich gegen die systematische „Dehumanisierung von Altersstufen“ und das allumfassende Diktat der Jugend aufzulehnen.
Die Autorin beschreibt die desolate Lage der Bewohner:innen in den staatlichen Altenheimen Frankreichs, die (Zufall?, fragt sie) zunehmend am Stadtrand gebaut werden, wie die Friedhöfe. Das Altern ist für Adler politisch und der Umgang mit den Ältesten die Blaupause dafür, wie sehr sich eine Gesellschaft den Menschenrechten und der Humanität verpflichtet fühlt.
Sparmaßnahmen in Pflegeheimen
Sie skandalisiert die Sparmaßnahmen des französischen Staats in den Pflegeheimen, die Arroganz gegenüber Pflegebedürftigen und Angehörigen in einer bevormundenden Verwaltungsmühle und fragt: „Haben wir ab einem gewissen Alter nicht mehr dieselben Rechte?“
Das Material, auf das sich Adler stützt, sind sparsam eingesetzte demografische Daten und Zahlen. Vor allem aber verwebt sie literarische und philosophische Positionen zum Thema mit Begegnungen. Darunter sind betagte Prominente wie die Schriftstellerin Annie Ernaux, eine Freundin der Autorin, oder die 79-jährige senegalesische Tänzerin Germaine Acogny, die sagt: „Bei uns tanzen die Alten bis zum Schluss.“
Dazu kommen ganz persönliche Anekdoten der Autorin, wie die von ihrer achtjährigen Tochter, die sie bittet, sie nicht mehr bis ins Schulgebäude zu begleiteten, da sie zu alt aussehe – um wenige Tage später festzustellen, dass andere, objektiv jüngere Mütter doch wesentlich älter wirkten. „Das war mein Freudentag“, kommentiert Adler, die offen ihr eigenes Ringen mit dem Älterwerden beschreibt: Der Abschied von der, spezifisch französischen, mit Begehren imprägnierten Weiblichkeit.
Aber auch die Überraschung, etwas gewonnen zu haben: eine Leichtigkeit, die Befreiung von gesellschaftlichen Konventionen und von der ewigen Frage, was man mit seinem Leben machen will.
Über den Tod sprechen
Bei der Lektüre erfährt man viel Neues. Auch Kurioses, wie vom Pornodarsteller Shigeo Tokuda, der sich mit 85 Jahren beim Slow Sex filmen lässt – in Japan, dem Land mit der ältesten Bevölkerung der Welt, ein einträglicher Markt. Oder von den „Zitronentafeln“ im Paris des 19. Jahrhunderts, benannt nach dem chinesischen Symbol für den Tod, bei denen intellektuelle Männer (und als einzige weibliche Ausnahme George Sand) dinierten und dabei über den Tod sprachen.
Adler lenkt den Blick immer wieder auch auf die schöpferischen Seiten des Alters und betrachtet die Kraft letzter Werke von Tizian über Beethoven bis zu Louise Bourgeois’ letzten Skulpturen. Aus dem Spätwerk des romantischen Schriftstellers François-René Chateaubriand, „Das Leben des Abbé Rancé“ schließlich hat die Autorin den Titel ihres so analytischen wie poetischen Buchs entlehnt: „Das Alter ist eine Reise durch die Nacht: Die Erde bleibt ihr verborgen, sie entdeckt nur noch den Himmel.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen