Charlotte Perriand, visionäre Architektin: Die freie Frau als Gestalterin

Sie stickte keine Kissen, sondern schuf ein Gesamtkunstwerk. Laure Adlers Buch über die visionäre Architektin Charlotte Perriand.

Die Schwarzweißaufnahme zeigt Charlotte Perriand schräg von der Seite, die Arme augebreitet. Ihre Kleidung ist funktional und sieht beinah militärisch aus.

1934 fotografierte Pierre Jeannert die Architektin Charlotte Perriand am Strand bei Dieppe Foto: Verlag

Noch bevor Covid-19 die Schließung der Ausstellung erzwungen hätte, ging im Februar die große Werkschau von Charlotte Perriand (1903–1999) in der Pariser Fondation Louis Vuitton zu Ende. Sie bleibt daher, unbeschadet selbst des monatelangen Streiks wegen der Rentenreform, in den Büchern als Besuchermagnet verzeichnet. Interessanterweise verspürte man, nachdem man in der Fondation mit allen Facetten ihres reichen Werks vertraut worden war, erst recht den Wunsch, noch mehr über Perriand zu erfahren.

So schön es also gewesen wäre, Laure Adlers Monografie über die Designerin, Fotografin und Architektin hätte in Deutschland schon zu Ausstellungszeiten vorgelegen: Das Interesse an Charlotte Perriand ist ungebrochen. Die klugen Recherchen des Bandes, unterstützt von reichhaltigem Fotomaterial, werden wohl berechtigte Aufmerksamkeit finden.

Zunächst tritt Le Corbusier auf, der Perriand warnte, „wir sticken hier keine Kissen“, als sie sich beim ihm als Architektin vorstellte. Aber er nimmt sie, gibt ihr eine Chance. Sie nutzt sie, wird groß bei ihm. Dafür akzeptiert sie, dass er sich ihre Entwürfe unter den Nagel reißt, wie die berühmte Chaise longue basculante oder den Fauteuil grand comfort.

Sie verlässt auch nicht deshalb nach zehn Jahren sein Büro. Zum Bruch führt ihr Protest gegen die zwei Vertreter der äußersten Rechten, die Le Corbusier 1937 im Komitee des Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) installiert. Perriand begreift sich inzwischen als politische Aktivistin im Dienst des Volkes. Sie nutzt mehr und mehr die Fotografie, um ihre Anliegen zu kommunizieren, und wartet in Ausstellungen und bei Kongressen mit monumentalen Fotomontagen auf, sei es zur Wohnungsnot in Paris oder zum Spanischen Bürgerkrieg.

Laure Adler: „Charlotte Perriand. Ihr Leben als moderne und unabhängige Frau“. Elisabeth Sandmann Verlag, München 2020, 192 Seiten, 44 Euro

Auffällig viele Frauen sind Teil der Bewegung und stellen mit Charlotte Perriand aus, die Fotografinnen Nora Dumas, Dora Maar, Germaine Krull und Simone Caby-Dumas, die ebenfalls mit der Fotomontage arbeitet. Eileen Grey gestaltet während der Volksfrontregierung, die den bezahlten Urlaub eingeführt hat, ein Ferienzentrum für Arbeiterfamilien, während Perriand für die Pariser Heilsarmee einen Heimkomplex inklusive Kindergarten baut.

1931 reist sie erstmals in die UdSSR. Auf einer zweiten Reise 1934 kühlt ihre Begeisterung merklich ab, erkennt sie als genaue Beobachterin des Alltags und seiner Menschen doch eine von den kommunistischen Idealen weit entfernte politische und soziale Realität.

In der Sowjetunion wie später in Japan und zuvor schon bei Bauern in den Alpen kann ihr alles, was sie sieht, Material werden, egal ob Möbel, Gerätschaften, Lichter, oder die Pflanzen, mit denen sich die Menschen umgeben. Das Kreidegraffito eines Matrosen auf dem Deck des Schiffes, das sie 1940 nach Japan bringt, wird wenig später als grandioser Teppich wiedergeboren.

Die Rolle der großen Innenausstatterin ist ihr da längst zu eng geworden, sie will „das Nest des Menschen schaffen“, aber, wie sie sagt, dazu auch „den Baum, der es trägt“. Die Metapher ist kein Zufall, in Per­riands Moderne genießt die Natur hohes Ansehen. Nach dem Krieg und ihrer Rückkehr nach Europa engagiert sich die Bergsteigerin und Skifahrerin (sie nimmt ihre Ski selbst nach Japan mit) bei Projekten in den französischen Alpen. Ihre Entwürfe sind so angelegt, dass sie von lokalen Handwerkern gefertigt werden können. Per­riand will sie so vom Abwandern bewahren.

Herausragendes Exempel moderner Freizeitarchitektur

Ihre ökologisch nachhaltige Strategie geht nicht auf. Schon 1948 übernimmt Hans Knoll ihre Möbel für das Chalet Le Doron im Bergdorf Méribel in sein Programm auf, und die Handvoll dortiger Familien spekuliert auf neuen Reichtum im Wintersportort.

Perriand selbst baut ab den späten 1960er Jahren mit der Skistation Les Arcs ein herausragendes Exempel einer modernen Freizeitarchitektur, die nun auch Durchschnittsverdienern Winterurlaub ermöglichen will. Die Effizienz des Agierens auf beschränktem Raum, die sie das bäuerliche Bauen und Einrichten gelehrt hat, findet sich sowohl in den nachhaltigen Materialien und funktionalen Planungen der Architektur des Wintersportzentrums wieder, wie auch in der Ausstattung kleiner und kleinster Räume dort.

Das von Laure Adler „Architektur-Labor“ genannte Gesamtkunstwerk wird 2003 als „Architekturerbe des 20. Jahrhunderts“ ausgezeichnet. Die Autorin erzählt von Leben und Werk Charlotte Perriands in drei langen, thematischen Kapiteln, was ihr Gelegenheit zu notwendiger Redundanz, gleichzeitig aber auch informationsreichen Perspektivwechseln gibt. Ihre empfehlenswerte Monografie zu Charlotte Perriand sieht diese als „Gestalterin“, „freie Frau“ und „Visionärin“.

Und obwohl die Erläuterungen zu deren Privatleben auffällig mager sind – wir erfahren noch nicht einmal den Namen des Mannes, den Perriand in Indochina heiratete, Vater ihrer Tochter Pernette –, wird doch deutlich, dass die freie, immer von Männern umgebene, mit Männern arbeitende, aber nie wirklich an einen Mann gebundene Frau Bedingung der visionären Designerin und Architektin ist, die ihre Zeit, das 20. Jahrhundert, wortwörtlich mitgestaltete.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.