Alltag im arktischen Eis: Familienleben bei minus 25 Grad
Die Wissenschaftsjournalistin Pia Grzesiak hat eine französische Familie begleitet und gefilmt, die auf ihrem kleinen Boot in der Arktis den Klimawandel erforscht
Was das schlimmste Erlebnis bei den Dreharbeiten war? „Eigentlich nur der starke Seegang am Anfang“, antwortet Pia Grzesiak ganz entspannt. „Aber als Frau eines Apothekers hatte ich was dabei, dann war es auch gleich wieder gut.“ Und diese Gelassenheit angesichts der riskanten Dreharbeiten in der Arktis, einer der unwirtlichsten Stellen der Erde, ist dem Dokumentarfilm „Expedition ins Eismeer“ auch deutlich anzumerken. Gedreht hat ihn die Wissenschaftsjournalistin Pia Grzesiak mit ihrem Kollegen Dirk Weiler anlässlich des derzeitigen Wissenschaftsjahres „Meere und Ozeane“.
Der Film ist ein Lehrstück über Forschung zum Klimawandel. Lediglich zu zweit und mit minimaler technischer Ausstattung begleiteten die beiden Filmemacher das kleine Forschungsschiff „Vagabond“, das unter widrigsten Bedingungen im polaren Eismeer gemeinsam mit „Eisforschern“ den Rückgang des arktischen Eises untersucht. Entstanden ist dabei ein beeindruckender Film, der den Zuschauer in die Extreme des Polarkreises mitnimmt und nicht nur zeigt, wie Natur und Mensch miteinander interagieren, sondern auch, welch weitreichende Folgen diese Beziehung hat.
Dass dabei kein dröger Unterrichtsfilm herausgekommen ist, ist einem dramaturgischen Kniff geschuldet, der hier überzeugend umgesetzt wurde. Als Rahmenhandlung kommt eine Konstellation zum Tragen, die allein für sich schon Stoff für einen eigenen Film böte: Auf dem nur 15 Meter langen Forschungsschiff leben ganzjährig Éric Brossier und seine Frau mit ihren sechs und neun Jahre alten Töchtern, welche dort schon seit ihrer Geburt sind.
Die Dreharbeiten begleiten die Familie sowohl im Winter, wenn das Schiff bei minus 25 Grad im Packeis festsitzt, als auch im Sommer, wenn sie bei teilweise schwerer See wochenlang entlang der Küste Grönlands und durch die Nordwestpassage zu einer der nördlichsten Siedlungen der Welt durch das Eismeer fahren: zum kleinen Dorf Resolute Bay in Kanada.
Man erfährt den ganzen Film hindurch vom Alltag der Familie: Wie die Töchter mittlerweile neben Französisch und Englisch auch Inuktitut sprechen, da sie mit den arktischen Ureinwohnern im Winter gemeinsam zur Schule gehen. Wie sie trotz Erfrierungsgefahr mindestens eine Stunde am Tag draußen spielen und am Segelmast schaukeln. Aber auch, wie sie manchmal drei Tage unter Deck sein müssen, wenn das Wetter umschwenkt und sie dann seekrank werden. Es ist zu spüren, wie dieser Part des Films Pia Grzesiak, die selbst Mutter von drei kleinen Kindern ist, beschäftigt hat.
Über dieses Setting gelingt es, den eigentlichen wissenschaftlichen Input des Filmes lebendig zu vermitteln: Warum ist die Untersuchung des Eismeeres wichtig, und zu welchen – harten – Bedingungen geht das eigentlich? Bei den Dreharbeiten im Winter ist dazu der Geophysiker Christian Haas vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven an Bord und unternimmt von dort aus gefährliche mehrtägige Expeditionen. Er untersucht die Dicke des Meereises mit Hilfe elektromagnetischer Sensoren und manueller Bohrungen.
Im Sommer kommt sein Kollege von der Universität Toronto, der Paläoklimatologe Jochen Halfar, mit auf das Forschungsboot, um auf der Schiffspassage durch das Eismeer Jahrhunderte alte Kalkskelette koralliner Rotalgen auf Tauchgängen zu suchen. Die Dicke der Jahresringe dieser Rotalgen korrespondiert – so die Theorie der beiden Forscher – mit der Dicke des Eises, unter dem sie gewachsen sind, sodass damit erstmalig möglich wird, die Entwicklung des arktischen Eises noch vor Beginn der Satellitenaufzeichnungen in den 1960er-Jahren nachzuvollziehen.
Die Dokumentation bricht die komplexen wissenschaftlichen Zusammenhänge plausibel herunter, sei es durch die Erklärungen der Wissenschaftler in ihrem Labor, sei es durch anschauliche Animationen. Um so eindringlicher bleibt die Botschaft haften: Die Spuren des Eingriffs durch den Menschen in die Natur lassen sich bis zur Industrialisierung um 1850 nachweisen. Und wenn sich daran nichts ändert, wird es in weniger als 100 Jahren mit dem weiteren Abschmelzen des Eises zu einer Erwärmung der Ozeane mit unabsehbaren Folgen für das Erdklima kommen.
„Die Herausforderung war, Interviews zu führen und gleichzeitig den Ton zu machen“, sagt Pia Grzesiak, die ihrem Kameramann und Co-Regisseur Dirk Weiler immer wieder bei den Dreharbeiten assistieren musste. Bei extremer Kälte und starkem Wind war es eine Herausforderung, die Technik so zu schützen, dass die Aufnahmen nutzbar blieben. Bemerkenswert ist, wie die klaustrophobische Enge auf dem Schiff, auf dem während der Dreharbeiten wochenlang bis zu neun Personen auf engstem Raum lebten, die Weite der Eislandschaft kontrastiert.
Die Aufnahmen, die zum Teil mit Drohnen gemacht wurden, fangen die Faszination ein, die sich gleichzeitig in den wettergegerbten Gesichtern der Forscher widerspiegelt und erklärt, warum diese sich Gefahr und Strapazen aussetzen.
Den Wetterkapriolen geschuldet war auch, dass die Dreharbeiten nicht wie geplant an Land fortgesetzt werden konnten, um noch mehr Einblicke in das Dorfleben in Resolute Bay zu geben, wo vier Monate im Jahr völlige Dunkelheit herrscht. Doch auch so ist ein Dokumentarfilm entstanden, der trotz Improvisationen absolut sehenswert ist. Denn er findet eine angemessene Sprache dafür, welch zerstörerische Spuren der Mensch in dieser Jahrtausende alten faszinierenden Landschaft allein in den letzten 150 Jahren hinterlassen hat und welche Gefahr für uns alle davon ausgeht.
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