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Alltag im GazastreifenMit Schlägen und Bomben aufwachsend

Im Geflüchtetencamp, in dem er lebt, bekommt unser Autor alles mit: Gespräche der Menschen über einen möglichen Waffenstillstand und häusliche Gewalt.

In den Zelten ist es sehr kalt: Ein Geflüchtetenlager im zentralen Gazastreifen, im Dezember 2024 Foto: Ramadan Abed/reuters

M anchmal fühlt sich mein Kopf an, wie ein Topf voll kochendem Wasser. Als wäre er kurz davor, zu zerschmelzen. Noch ist mein Kopf ganz, auf meinen Schultern. Also ziehe ich meine Schuhe an und mache mich auf den Weg zur Arbeit. Ich arbeite als Schreibcoach für Kinder, gemeinsam mit ihnen schreibe ich Geschichten.

Vielleicht achte ich deshalb derzeit mehr auf die Kinder in meiner Umgebung. Vielleicht fällt mir deswegen auf, was zwei benachbarte Kinder aus unserer Reihen an Zelten immer wieder tun: Sie reiben sich – auf eine ganz bestimmte Weise – aneinander. Mir ist klar, dass sie nicht verstehen, was sie da tun. Vielleicht haben sie gesehen, wie ihre Eltern im Zelt miteinander schliefen. Vielleicht haben sie andere Dinge gesehen, die sie nicht hätten sehen sollen.

Ich gehe zur Arbeit, dann lade ich mein Handy auf, dann kehre ich zurück ins Zelt. Ich schlafe und wache auf und höre die Leute auf der Straße über ihren Glauben sprechen – und darüber, wann der Waffenstillstand eintreten wird.

Schone die Rute, verderbe das Kind – auf diesem Glauben basiert noch immer ein Teil des Erziehungssystems in Gaza

In meinem Zelt ist es sehr kalt. Wie frieren erst die Kinder? Ich höre die Menschen um mich herum schwer atmen. Ein Virus breitet sich derzeit aus, besonders unter Kindern. Zu den Symptomen dieser Krankheit gehören Kurzatmigkeit und Husten. Das Flüchtlingshilfswerk UNICEF hat Wasserproben in Gaza genommen und fand darin Polio, ein Virus, das das Atmen erschwert.

Die Menschen husten ständig, die Nasen tropfen unaufhörlich. Auf dem Markt werden kleine Taschentuchpakete für 5 Dollar verkauft. Vor Kurzem wachte ich auf, weil in der Nähe Bomben fielen. Es roch nach Schießpulver, ich fühlte mich, als müsste ich ersticken.

Im Nachbarzelt wird die Mutter gewalttätig

Im Nachbarszelt lebt eine Lehrerin. Ich höre, wie sie ihren Kindern und den Kindern des Lagers „Moral“ beibringt. Dabei verhöhnt sie mit ihrer Art, sie ihnen beizubringen, die „Moral“ selbst. Sie hat einen 15-jährigen Sohn, der alles macht, was sie will. Er trägt das Wasser, reinigt das Zelt und kauft ihr alles, was sie braucht. Wenn er einen nur kleinen Fehler macht, schreit sie: „Möge Gott dich lebendig verbrennen.“

Sie hat eine Tochter, die 13 Jahre alt ist. Sie kümmert sich um das Neugeborene, kocht und macht die Wäsche. Wenn sie einen Fehler macht, wird sie mit einer Peitsche geschlagen. Jede Nacht höre ich ihre Schreie, so wie alle anderen im Lager auch. „Schone die Rute, verderbe das Kind“ – auf diesem Glauben basiert noch immer ein Teil des Erziehungssystems in Gaza. Das war auch vor dem Krieg schon so. Dabei erfordert das Lernen Barmherzigkeit, denke ich.

Die Lehrerin hat eine Schwester. Sie lebt auch in unserem Vertriebenenlager. Sie wurde in ihrer Kindheit so oft geschlagen, dass sie wohl einen Teil ihres Verstandes verloren hat. Wir hören, dass ihre Mutter sie nachts noch immer misshandelt. Letzte Nacht verprügelte die Lehrerin ihre Tochter, und deren Mutter schlug gleichzeitig deren Schwester. Sie haben das Schlagen geerbt – ein Kreislauf. Der Vater sieht schweigend zu. Seine größte Sorge: Er möchte keine lauten Geräusche hören müssen, sie stören ihn. Am nächsten Tag höre ich, wie der Vater zu seinem Sohn sagt: „Es hat mir nicht gefallen, wie du mit deiner Mutter gesprochen hast.“

Ich denke über seine Worte nach. Und über den Kreislauf der Gewalt. Darüber, wie die Kinder des Gazastreifens einmal als Erwachsene sein werden. Mein Kopf ist kurz davor, zu schmelzen. Wieder einmal.

Esam Hani Hajjaj (27) kommt aus Gaza-Stadt und ist Schriftsteller und Dozent für kreatives Schreiben für Kinder. Nach Kriegsausbruch ist er innerhalb des Gazastreifens mehrfach geflohen.

Internationale Jour­na­lis­t*in­nen können seit dem Beginn des Krieges nicht in den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“ holen wir Stimmen von vor Ort ein.

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10 Kommentare

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  • there has been a message from the citadel.



    they sent a white raven.

    winter has come.

  • Elend erzeugt solche furchtbaren Zustände. Ob die Verursacher dieses Elends das interessiert? Nein, sie haben schon immer und überall davon profitiert.

    • @aujau:

      "Elend erzeugt solche furchtbaren Zustände."

      Elend alleine meiner Meinung nach nicht; Elend kann ja auch apathisch machen. Ich kann mich an Personen erinnern, die im Elend lebten und trotzdem liebevoll und fürsorglich waren. Das ist meiner Meinung nach auch viel naheliegender, da Niedertracht, Bosheit und der Zwang, vermeintlich überlegen zu sein, mehr Energie benötigen.

      Ich denke eher, dass sich in solchen Elends-Stuationen Psychopathen und Machtmenschen besonders hervortun.

      Vielleicht gibt es unter den anderen Kommentatoren Fachleute.

      • @*Sabine*:

        Psychopathen und Machtmenschen können Elend besser oder anders ausnutzen als Reichtum, Bildung und Komfort.

    • @aujau:

      Wir müssen ja gar nicht so lange in unserer eigenen Geschichte zurückgehen um beim Rohrstock in der Schule zu landen? Lag das damals auch am Elend oder Israel? Es gibt meines Wissens nach in Deutschland keinen Nachweis dafür, dass arme Kinder mehr geschlagen werden als reiche. Für mich sind das dann also Ausreden um nur ja nicht zur Frage der Eigenverantwortung der Beteiligten Stellung zu nehmen. Mich hat im Artikel ja die völlig andere Wahrnehmung von Temperaturen beschäftigt. Die Tagestemperaturen in Gazah sind ja derzeit immer noch nördlich der 20 Grad bei einem Wetter welches wir hier wahrscheinlich als frühsommerlich beschreiben würden. Das erinnert mich an die Touristen die mich am Alex immer fotografieren wollten, weil ich bei unter 10 Grad noch im T-Shirt unterwegs war.

      • @Šarru-kīnu:

        Es geht mir nicht um Ausreden, sondern um Faktoren, die Gewalt begünstigen. Und ja, ich bin mir sehr wohl darüber bewusst, dass die Gewalt in unserer eigenen Geschichte nicht durch Israel erzeugt wurde. Eigenverantwortung braucht übrigens auch einen Raum, um entwickelt zu werden. Ist in Armut aber nicht so dolle gegeben.

      • @Šarru-kīnu:

        "Es gibt meines Wissens nach in Deutschland keinen Nachweis dafür, dass arme Kinder mehr geschlagen werden als reiche."



        Als Anregung zur Situation in Deutschland: www.frauenhauskoor...er-bundesregierung



        Der Artikel handelt übrigens nicht von Deutschland; die Armut, die in Gaza hergestellt wurde lässt sich nicht mit der in Deutschland vergleichen und stellt an sich schon eine extreme Form der Gewalt gegen die Kinder dort dar. Zum Zusammenhang zwischen lebensbedrohender Armut und Gewalt gegen Frauen und Kinder ist ebenfalls ausreichend geforscht um ihre Wahrnehmung zu widerlegen.



        Beispiel:childrightsconnect...-form-of-violence/

      • @Šarru-kīnu:

        Ich stimme ihnen zu, wer seine Kinder schlägt kann sich weder durch eigene Gewalterfahrung noch durch Armut oder Krieg herausreden. Kinder schlagen ist ganz einfach falsch und wer es trotzdem tut ist ein schlechter Mensch.



        In Gaza sind zurzeit 13C*, nachts geht es runter auf 7 tagsüber auf 20, es besteht keine Gefahr zu erfrieren, Zelten würde ich aber nicht gerne.

        • @Jesus:

          In September Nachts - Wohnungsbrand. Temperaturen definitiv über 7°C -



          Dennoch wurde ein Bewohner des Hauses wegen schwerer Unterkühlung mit ins Krankenhaus gebracht - Lebensgefahr.

          Man muss nicht "Erfrieren" um in Lebensgefahr zu kommen, es reicht eine Unterkühlung vollkommen aus.



          Aus der Maltesa Website:



          Unterkühlen können wir nicht nur bei Minusgraden. Ist es nass und windig ist die Gefahr besonders groß und der Körper kann auch bei Plusgraden auskühlen.

          www.malteser.de/aw...n%20ausk%C3%BChlen.

        • @Jesus:

          "es besteht keine Gefahr zu erfrieren"

          Bei Temperaturen weit unter 37,5°C besteht für Menschen nur dann "keine Gefahr zu erfrieren", wenn durch ausreichende Nahrungsversorgung und Kleidung die nötigen Joule Brennwert geliefert werden, um die Körperkerntemperatur im viablen Bereich zu halten.

          Kleine dünne Menschen kühlen natürlich schneller aus als große dicke. Bergmanns Regel gilt auch ontogenetisch - das Oberfläche-Volumen-Gesetz ist ja eine der fundamentalsten und ubiquitärsten praktischen Folgen unserer thermodynamischen Naturgesetze.

          So, und nun die Frage: hat sich das mit der Nahrungsversorgung im Norden des Gazastreifens mittlerweile geregelt?



          Wieviel kg wiegt ein durchschnittliches 10jähriges Kind dort zur Zeit?