Alltag im Gazastreifen: Mit Schlägen und Bomben aufwachsend
Im Geflüchtetencamp, in dem er lebt, bekommt unser Autor alles mit: Gespräche der Menschen über einen möglichen Waffenstillstand und häusliche Gewalt.
M anchmal fühlt sich mein Kopf an, wie ein Topf voll kochendem Wasser. Als wäre er kurz davor, zu zerschmelzen. Noch ist mein Kopf ganz, auf meinen Schultern. Also ziehe ich meine Schuhe an und mache mich auf den Weg zur Arbeit. Ich arbeite als Schreibcoach für Kinder, gemeinsam mit ihnen schreibe ich Geschichten.
Vielleicht achte ich deshalb derzeit mehr auf die Kinder in meiner Umgebung. Vielleicht fällt mir deswegen auf, was zwei benachbarte Kinder aus unserer Reihen an Zelten immer wieder tun: Sie reiben sich – auf eine ganz bestimmte Weise – aneinander. Mir ist klar, dass sie nicht verstehen, was sie da tun. Vielleicht haben sie gesehen, wie ihre Eltern im Zelt miteinander schliefen. Vielleicht haben sie andere Dinge gesehen, die sie nicht hätten sehen sollen.
Ich gehe zur Arbeit, dann lade ich mein Handy auf, dann kehre ich zurück ins Zelt. Ich schlafe und wache auf und höre die Leute auf der Straße über ihren Glauben sprechen – und darüber, wann der Waffenstillstand eintreten wird.
In meinem Zelt ist es sehr kalt. Wie frieren erst die Kinder? Ich höre die Menschen um mich herum schwer atmen. Ein Virus breitet sich derzeit aus, besonders unter Kindern. Zu den Symptomen dieser Krankheit gehören Kurzatmigkeit und Husten. Das Flüchtlingshilfswerk UNICEF hat Wasserproben in Gaza genommen und fand darin Polio, ein Virus, das das Atmen erschwert.
Die Menschen husten ständig, die Nasen tropfen unaufhörlich. Auf dem Markt werden kleine Taschentuchpakete für 5 Dollar verkauft. Vor Kurzem wachte ich auf, weil in der Nähe Bomben fielen. Es roch nach Schießpulver, ich fühlte mich, als müsste ich ersticken.
Im Nachbarzelt wird die Mutter gewalttätig
Im Nachbarszelt lebt eine Lehrerin. Ich höre, wie sie ihren Kindern und den Kindern des Lagers „Moral“ beibringt. Dabei verhöhnt sie mit ihrer Art, sie ihnen beizubringen, die „Moral“ selbst. Sie hat einen 15-jährigen Sohn, der alles macht, was sie will. Er trägt das Wasser, reinigt das Zelt und kauft ihr alles, was sie braucht. Wenn er einen nur kleinen Fehler macht, schreit sie: „Möge Gott dich lebendig verbrennen.“
Sie hat eine Tochter, die 13 Jahre alt ist. Sie kümmert sich um das Neugeborene, kocht und macht die Wäsche. Wenn sie einen Fehler macht, wird sie mit einer Peitsche geschlagen. Jede Nacht höre ich ihre Schreie, so wie alle anderen im Lager auch. „Schone die Rute, verderbe das Kind“ – auf diesem Glauben basiert noch immer ein Teil des Erziehungssystems in Gaza. Das war auch vor dem Krieg schon so. Dabei erfordert das Lernen Barmherzigkeit, denke ich.
Die Lehrerin hat eine Schwester. Sie lebt auch in unserem Vertriebenenlager. Sie wurde in ihrer Kindheit so oft geschlagen, dass sie wohl einen Teil ihres Verstandes verloren hat. Wir hören, dass ihre Mutter sie nachts noch immer misshandelt. Letzte Nacht verprügelte die Lehrerin ihre Tochter, und deren Mutter schlug gleichzeitig deren Schwester. Sie haben das Schlagen geerbt – ein Kreislauf. Der Vater sieht schweigend zu. Seine größte Sorge: Er möchte keine lauten Geräusche hören müssen, sie stören ihn. Am nächsten Tag höre ich, wie der Vater zu seinem Sohn sagt: „Es hat mir nicht gefallen, wie du mit deiner Mutter gesprochen hast.“
Ich denke über seine Worte nach. Und über den Kreislauf der Gewalt. Darüber, wie die Kinder des Gazastreifens einmal als Erwachsene sein werden. Mein Kopf ist kurz davor, zu schmelzen. Wieder einmal.
Esam Hani Hajjaj (27) kommt aus Gaza-Stadt und ist Schriftsteller und Dozent für kreatives Schreiben für Kinder. Nach Kriegsausbruch ist er innerhalb des Gazastreifens mehrfach geflohen.
Internationale Journalist*innen können seit dem Beginn des Krieges nicht in den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“ holen wir Stimmen von vor Ort ein.
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