Alltag im Gazastreifen: Zwischen Hammer und Amboss
In Gaza drohen die Lichter auszugehen. Israel und Ägypten verschärfen die Krise. Auch der Machtkampf in den eigenen Reihen trägt dazu bei.
80.000 Menschen leben im Flüchtlingslager von Dschabalijah. Genau hier begann vor 30 Jahren die erste Intifada, der Volksaufstand der Palästinenser gegen die israelische Militärbesatzung.
Die UNRWA, Abkürzung für Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, unterhält Schulen und Kliniken für die palästinensischen Flüchtlinge im Gazastreifen und Westjordanland, im Libanon, in Syrien und in Jordanien. Waren es 1948 bei der ersten Vertreibung nach Israels Staatsgründung 700.000 Menschen, die die UNO versorgte, so wuchs die Zahl mit der zweiten Vertreibung nach dem Sechstagekrieg 1967 an. Vor allem aber werden alle direkten Nachkommen von Flüchtlingen ebenfalls als solche erfasst, was infolge der hohen Geburtenrate dazu geführt hat, dass die UNRWA heute über 5,3 Millionen palästinensische Flüchtlinge zählt. Nirgendwo sonst auf der Welt vererbt sich der Flüchtlingsstatus von Generation zu Generation. Weder ihre eigene Führung noch die Vereinten Nationen haben jemals nach einer Hilfe zur Selbsthilfe für sie gesucht. Das Problem wird so verstetigt.
Die Menschen sind zum Nichtstun und zur Armut verdammt. Von ausländischen Spenden zu leben gilt als völlig normal. Knapp drei Viertel der insgesamt zwei Millionen im Gazastreifen lebenden Menschen sind Flüchtlinge oder deren Nachkommen. Die große Mehrheit ist weitgehend auf die Nahrungsmittelhilfen der UNRWA angewiesen.
Neun Kilogramm Reis für drei Monate
Sharaf hat nur einen Sohn, was für den kinderreichen Gazastreifen sehr ungewöhnlich ist. Die Ration der Familie umfasst für drei Monate: drei Säcke Mehl mit jeweils 30 Kilogramm, neun Kilogramm Reis, drei Kilogramm Zucker, sechs Liter Öl und 15 Dosen mit Fischkonserven. Dazu kommen umgerechnet 120 Euro pro Monat Sozialhilfe, die die Palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah an den schon seit vielen Jahren arbeitslosen Familienvater zahlt.
„Die Vereinten Nationen sind für die Flüchtlinge verantwortlich“, sagt Sharaf. Wenn man in New York das Problem lösen würde, „bräuchten wir die Hilfe nicht mehr“. Weder er selbst noch sein Sohn, der gerade Abitur macht, hätten Aussicht auf eine Stelle. Ein Passant, der seinen Mehlsack auf einer Handkarre nach Hause schiebt, hört das Gespräch und schüttelt niedergeschlagen den Kopf. „Keine Arbeit, kein Leben“, sagt er.
Aktivist Mohammad Altaluli
Früher einmal durften zigtausende Palästinenser aus dem Gazastreifen zur Arbeit nach Israel fahren, bis der Grenzverkehr schrittweise gestoppt wurde. Israel versperrte die Tore aus Angst vor terroristischen Anschlägen, und die Hamas erlaubt nur in Ausnahmefällen die Ausreise via Erez, den streng bewachten Grenzübergang. „Israel sperrt uns ein“, schimpft Sharaf mit heiserer Stimme und räumt ein, dass nicht allein den Besatzern die Schuld für die Not der Menschen zuzuschreiben sei. „Wir hatten so große Hoffnungen“, als die Nachricht von einer Einigung zwischen der Hamas in Gaza und der im Westjordanland herrschenden Fatah bekannt wurde. Gerade vier Monate ist es her, dass die beiden großen palästinensischen Bewegungen die Streitaxt begruben. „Ich weiß nicht, warum die Versöhnung nicht funktioniert“, sagt Sharaf ratlos.
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Die Autonomiebehörde unter Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, der gleichzeitig Chef der Fatah ist, sollte im Zuge der Versöhnung die Beamtengehälter wieder bezahlen, hieß es im letzten Oktober, und sie sollte auch die Zuständigkeit für den Grenzübergang Rafah Richtung Ägypten erhalten, der dann wieder geöffnet werden würde. Doch nichts davon ist geschehen. Die Regierung in Kairo hielt sich nicht an das Versprechen, den Übergang zu öffnen. Abbas hat noch immer nicht mit der Zahlung der Beamtengehälter begonnen. Auch die einst von der Fatah angestellten rund 50.000 Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes in Gaza bekommen seit Monaten nur einen Bruchteil ihres Gehalts.
Die Hamas gibt sich unschuldig für die Lage
„Wir haben alle unsere Verpflichtungen erfüllt“, sagt Abdel Latif al-Kanua, Sprecher der Hamas. Aus Perspektive der Islamisten liegt der Ball im Feld der Fatah. Kanua sitzt im Haus des Innenministeriums, dem seit dem Krieg vor vier Jahren die komplette Frontseite fehlt. Die vordere Zimmerreihe ist nach einem Luftangriff der israelischen Armee wie abgesägt. Nur das Treppenhaus wurde notdürftig verputzt, und die hinteren Büroräume haben neue Fenster. Kanua trägt ein Jacket über dem karierten Wollpullover. In seinem Büro ist es kühl und duster. Schon am Vormittag fällt über Stunden der Strom aus. Zwar zahlt die Autonomiebehörde in Ramallah seit einigen Wochen wieder die Rechnungen für die Stromversorgung öffentlicher Einrichtungen, trotzdem fließt der Strom nur sporadisch. Der Versöhnungsprozess der beiden über zehn Jahre lang zerstrittenen Fraktionen „geht langsam voran“, seufzt Kanua, der die Lage im Gazastreifen als „miserabel“ bezeichnet. Die Schuld dafür gibt er allein der Autonomiebehörde.
Was dem Gazastreifen fehlt, ist ein zahlungsfähiger und -williger Hausherr. Die Autonomiebehörde zögert damit, die Rechnungen zu übernehmen, denn die Hamas hat zwar offiziell die Verantwortung für die Versorgung der Bürger Gazas abgegeben, de facto sind die Islamisten aber unverändert die Chefs. Auf den Straßen prägen die schwarzen Uniformen der Hamas-Beamten das Bild. Präsident Abbas hält die Gehälter der Beamten zurück, um den Druck auf die Hamas zu verstärken.
Autonomiebehörde und Hamas sind die größten Arbeitgeber im Gazastreifen, gefolgt von der UNRWA, die 13.000 palästinensische Mitarbeiter beschäftigt, davon knapp 10.000 allein an den Schulen. In den Flüchtlingslagern können alle Jungen und Mädchen Abitur machen, während im benachbarten Ägypten über ein Drittel der Bevölkerung Analphabeten sind. Die palästinensische Jugend ist gut geschult, aber das nützt ihr wenig. 70 Jahre nach Beginn des Flüchtlingsproblems gibt es noch immer keinen wirtschaftlichen Masterplan, keine Industrieanlagen und keine Ausbeutung der natürlichen Gasvorkommen, die vor der Küste des Gazastreifens vermutet werden.
Die Angestellten der UNRWA gelten als privilegiert, viele haben Dienstfahrzeuge, vor allem aber sind sie die Einzigen, die ihr volles Gehalt beziehen. Noch. Denn US-Präsident Donald Trump reduziert die Beitragszahlungen an die UN-Organisation. Washington trug bisher fast ein Drittel der Kosten. Trump hat die Mittel um 65 Millionen US-Dollar gekürzt.
Viele Läden müssen schließen
Schritt für Schritt gerät der dicht bevölkerte Gazastreifen in einen Lähmungszustand. Noch vor wenigen Monaten war in dem Verkehrschaos der Stadt Gaza kaum ein Durchkommen. Inzwischen sind viel weniger Privatwagen unterwegs. Es dominieren die Dienstfahrzeuge der Hamas-Funktionäre, der UNRWA, einiger Nichtregierungsorganisationen, Taxis, ein paar Motorräder und Pferdewagen. Zwei von drei Läden bleiben geschlossen. Früher halfen sich die Leute mit Generatoren, um Strom zu produzieren, nun kann sich kaum noch jemand den Treibstoff leisten. Kleidung und Schuhe sind Luxusartikel geworden. Grund für die erkennbar wachsende Armut ist, dass selbst die, die Arbeit haben, nicht mehr bezahlt werden.
„Seit zehn Jahren lässt uns die Hamas bluten. Die politische Führung hat versagt“, schimpft Mohammad Altaluli, der zusammen mit einer Gruppe von rund 50 Künstlern gegen die Zustände protestiert. Er selbst schreibt Gedichte. Guevara nennen ihn die Leute im Lager von Dschabalijah. Das Bild des kubanischen Rebellen hängt an der Wand hinter Altalulis Schreibtisch zusammen mit Nelson Mandela, Fidel Castro, Jassir Arafat und Scheich Ahmed Jassin, dem Gründer der Hamas. „Alles Männer, die ihr Leben für den Widerstand gaben“, erklärt Altaluli, der seinem größten Vorbild auffallend ähnlich sieht. Wie Che Guevara trägt der 25-jährige Palästinenser einen Vollbart und dunkle Locken, die er mit einer Sonnenbrille zurückhält, damit sie ihm nicht ins Gesicht fallen. Er ist mager, scheint nur von Kaffee zu leben und ab und zu einer Zigarette, wenn er sie sich leisten kann. „Früher gab es Reiche und Arme im Gazastreifen“, sagt er. „Heute sind fast alle arm.“ Nicht weniger als 170.000 Leute protestierten Anfang letzten Jahres für mehr Strom, für Arbeit und offene Grenzen.
Sechs Mal hat die von der Hamas kontrollierte Polizei ihn seither zu Verhören geladen. „Beim ersten Mal haben sie mir die Haare geschnitten“, lächelt er bitter und zieht ein Foto hervor. „Das Frustrierendste ist, wenn dich die eigenen Leute so behandeln.“ Auf dem Bild trägt er einen Bürstenschnitt. Sein dritter Prozess steht unmittelbar bevor. „Missbrauch sozialer Medien“, so lautet die Anklage. Altaluli nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, Hamas-Funktionäre zu kritisieren, die Einzigen, „für die das Leben in Gaza aushaltbar ist“, wie er sagt. Die sozialen Medien sind seine Bühne.
Kaninchenzucht auf dem Dach
Altaluli ist der älteste Sohn von insgesamt 18 Geschwistern, das jüngste ist gerade drei Jahre alt. Mohammads Vater verlor bei Auseinandersetzungen mit israelischen Soldaten vor 25 Jahren ein Bein, kann seither nicht mehr arbeiten und nahm sich trotzdem eine zweite Frau. Die Familie steht auf der Liste der UNRWA und erhält regelmäßig Nahrungsmittelpakete. Die Männer schlafen auf Matratzen im Wohnzimmer, für die Mädchen gibt es einen Nebenraum, und auf dem Dach züchtet die Familie Kaninchen. „Die essen wir“, sagt Sohn Mohammad und packt eins der Tiere am Kragen.
„Mustamera“, zu Deutsch: „Es geht weiter“, so nennt sich die Bewegung der jungen Palästinenser. Gemeint ist, dass „die Revolution weitergeht“. Theaterleute, Maler, Dichter, Rapper und Karikaturisten gehören dazu, „allesamt revolutionäre Künstler“. Altaluli pflegt sein Image als Intellektueller. Er trägt eine Weste über dem karierten, bis zum Hals zugeknöpften Hemd und ein dunkles Jackett. Auf seinem Schreibtisch stapeln sich Bücher von Edward Said, dem palästinensischen Literaturprofessor, und anderer palästinensischer Denker. Ohne die Hilfe der UNRWA wäre seine Familie verloren, gibt er zu, aber die Nahrungsmittelhilfe verändere nichts. Die Leute sehnten sich nach Kultur und Theater. „Wenn wir noch zehn Jahre in diesem Gefängnis hocken, ohne Kultur, ohne Bildung, dann werden wir explodieren und uns alle dem IS anschließen.“
Zehn Jahre sind eine beinahe noch rosige Perspektive im Vergleich zu einem Bericht der Vereinten Nationen, der schon vor Jahren festhielt, dass der Gazastreifen bis 2020 unbewohnbar sein würde. In zahlreichen Krankenhäusern gilt bereits der Ausnahmezustand. Wegen Mangel an Treibstoff mussten „drei Hospitäler und zehn Kliniken die Stromgeneratoren stoppen“, teilt das palästinensische Gesundheitsministerium in Gaza mit. Immer wieder kommt es zu Streiks wegen der ausbleibenden Gehaltszahlungen. Das Pflegepersonal des Schifa-Hospitals musste jüngst im Slalom mit den Betten um die Mülltüten fahren, die das Reinigungspersonal stehen ließ, als es die Arbeit niederlegte.
Die Organisation „Ärzte für Menschenrechte“ berichtet, dass die Autonomiebehörde zwar „22 Lastwagenladungen mit Medikamenten, Instrumenten und Babynahrung“ nach Gaza geschickt habe, trotzdem fehlten aber „grundlegende Arzneimittel“. Der Umfang der Lieferung sei „unbedeutend, angesichts der chronischen Mangellage“. Offensichtlich macht Präsident Abbas die Hilfebedürftigsten und Kranken zum Joker in seinem Machtkampf mit der Hamas. Das Gesundheitsministerium in Ramallah ist für die Versorgung der Krankenhäuser in den gesamten Palästinensergebieten zuständig, also auch im Gazastreifen. Dafür zahlt die Europäische Union jährlich Hunderte Millionen Euro nach Ramallah.
Die Bereitschaft zum Spenden sinkt
Bei der Al Falah, der größten Wohlfahrtsorganisation in Gaza, stehen die Leute an für Nahrungsmittel oder Medikamente. „Wir helfen ohne Unterschied “, sagt Projektleiterin Hala Ham. Es gibt Handarbeitskurse und Nähmaschinen, und auch bei der Vermarktung hilft die Al Falah, die zudem regelmäßig 2.000 Waisenkinder mit Nahrungsmittelpaketen versorgt. Viel mehr sei im Moment kaum machbar, heißt es. „Wir können kaum zwei Prozent des Bedarfs decken“, sagt Ham, eine schlanke, große Frau in schwarzem Kaftan und mit fest anliegendem Kopftuch. Immer mehr Menschen bräuchten Hilfe, und immer weniger Geld fließe in die Kassen.
„Die Motivation, für Gaza zu spenden, ist nicht mehr so groß wie 2014“, nach dem Krieg mit Israel. „Wir tun, was wir können“, sagt die studierte Pädagogin, die angesichts des wachsenden Elends mitgenommen wirkt. Die Belagerung Gazas habe die Leute mürbe gemacht. „Unsere Jugend hat keine Perspektive, kein Geld, um zu heiraten, kaum Nahrung für die Kinder.“ Logisch, so sagt es Ham, dass Ägypten die Grenze geschlossen hält. „Wenn wir könnten, würden wir alle hier abhauen.“
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