Allerletztes Buch der Gereon-Rath-Reihe: Praliné mit doppeltem Zeitsprung
In „Westend“ lässt Volker Kutscher seine Kommissar Gereon Rath zurückblicken. Das von Kat Menschik illustrierte Buch ist ein Vergnügen für Fans.

Nach einem 10-Gänge-Menü mit stets gehaltvollem Essen sehnen sich die meisten kaum auch noch nach einem Nachtisch. Wenn dann als Dessert ein Praliné mit feinster Schokolade serviert wird, ist es gut möglich, dass auf Dauer exakt das in Erinnerung bleibt. Genauso könnte es sein bei der Gereon-Rath-Reihe von Volker Kutscher.
Ende 2024 hatte Kutscher den letzten Band der Krimi-Reihe vorgelegt, in der er den fiktiven Kommissar Gereon Rath aus der Endphase der Weimarer ins Nazideutschland begleitet hatte. Zehn Bände mit je an die 600 Seiten, an denen er fast 20 Jahre gearbeitet hatte. Im letzten brannten die Synagogen während der Reichspogromnacht 1938, der einstige Kommissar lebte längst im Untergrund und die große Liebe zwischen ihm und seiner Frau Charlotte war zerbrochen. Ein Ende ohne Happy-End.
Doch nun legt Kutscher doch noch mal nach. Mit „Westend“, einem kleinen, aber sehr feinen Band. Das Büchlein beginnt mit einem gleich doppelten Zeitsprung. Anfang 2025 lässt Kutscher ein:e Historiker:in im Nachlass eines emeritierten Professors Kassetten finden, auf denen ein von ihm geführtes Interview zu hören ist. Es wurde aufgezeichnet 1973 in einem Seniorenheim im Berliner Westend. Sein Gesprächspartner: der längst pensionierte Kommissar Gereon Rath.
Interviews mit einer literarischen Figur sind naturgemäß selten. Mit Gereon Rath gab es bisher nur eins. Volker Kutscher hatte sich 2014 für ein Gespräch mit der taz in die Rolle seines Kommissars versetzt.
Volker Kutscher: „Westend“. Mit Illustrationen von Kat Meschnik. Galiani Verlag, Berlin 2025. 104 Seiten, 23 Euro
Mit der Neuauflage als literarischer Konstruktion gelingt es Kutscher nun nicht nur, seinen Hauptdarsteller auf seine Arbeit als Polizist zurückblicken zu lassen. Kutscher nimmt auch offen gebliebene Fäden aus der Krimireihe auf, erzählt en passant, was aus zentralen Figuren geworden ist. Und er schafft es auch noch, die ganze komplexe Nachkriegsgeschichte, die Teilung Deutschlands und Berlins in Ost und West, die auch Familien, Paare auseinandergerissen hat, nicht nur als nachvollziehbare Geschichte seiner Charaktere zu erzählen, sondern zu einem veritablen Spionageplot auszubauen.
Alte Nazis, neue Sozialisten
Da werde alte Nazis zu neuen Sozialisten, da werden alte Freund:innen zu Kalten Kriegern, und ganz nebenbei werden, wie man das aus Kutschers Krimis gewohnt ist, historische Orte wie das Café Warschau an der heutigen Karl-Marx-Allee im ehemaligen Ost-Berlin zu lebendigen Orten, über die man gleich noch mehr wissen will. Das Gespräch strotzt nur vor überraschenden Wendungen. Selbst der Interviewer – aber halt, das würde zu viel verraten.
Wer die Gereon-Rath-Krimis nicht gelesen hat, wird nur Bahnhof verstehen. Für Kenner:innen der Reihe aber ist das Büchlein pures Vergnügen. Auch weil es äußerst schön ist, so wie sich das für ein Praliné gehört. Denn es wird von zahlreichen, schwarz-orange-weißen Zeichnungen der Illustratorin Kat Menschik geschmückt. Die hatte schon die beiden Bände „Moabit“ und „Mitte“ aufgewertet, in denen Kutscher zuvor schon wie in einem Spin Off kleine, feine Geschichten wichtiger Figuren aus der Reihe weitergesponnen hatte. Schon diese beiden Bände waren im Wortsinne für Liebhaber.
An „Westend“, dem dritten aus dieser Kooperation entstanden Büchlein, gibt es nur zwei Dinge zu kritisieren. Zum einen, dass es nach gerade mal 100 Seiten schon wieder zu Ende ist. Zum anderen, dass es zu spät kommt. Denn beim Lesen drängt sich förmlich auf, welch großartigen Handlungsrahmen dieses Interview bieten würde für eine wunderbare Verfilmung der Gereon-Rath-Saga. Aber die gab es ja mit der im Bombastkleister verendeten „Babylon Berlin“-Reihe schon.
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