Ali Celikkan über die Feiern ein Jahr nach dem Putschversuch: Gewalt als Fetisch
Das Lied war passend gewählt: „Crush those who long to possess your country, my son“, hallte es aus den Lautsprechern vor dem Parlamentsgebäude in Ankara, wo Präsident Recep Tayyip Erdoğan nachts vor seine Anhänger trat. Weniger passend schien der Titel, mit dem der Präsident angekündigt wurde: als Oberster Heerführer. Seltsam für einen Mann, der während seiner gesamten Karriere als Politiker immer gegen den Einfluss des Militärs kämpfte.
Vor einem Jahr wurde das türkische Parlamentsgebäude, vor dem der Präsident nun eine Rede hielt, bombardiert. Ein Jahr später ist der 15. Juli ein nationaler Feiertag. Auch wenn die halbe Welt rätselt, was an einem gescheiterten Putsch Anlass zum Feiern sein soll – für das Regime ist er notwendig. Er hält die Erinnerung an das Trauma lebendig.
Es stimmt, der Putsch wurde dadurch verhindert, dass einfache Menschen „durch Gebet, Flagge und Vaterlandsliebe zu Helden mythologischen Ausmaßes“ wurden, wie Erdoğan es formulierte. Doch der tatsächliche Putsch erfolgte ein paar Tage später. Am 20. Juli, als der Staat den Notstand ausrief und damit die Zerschlagung der gesamten Opposition ermöglichte.
Erdoğan stellte klar, dass der Notstand ein viertes Mal verlängert werden wird. Tod und Gewalt sind heute nicht nur allgegenwärtig, sie werden zum Fetisch der „neuen Türkei“. Einer Sage, an der die türkische Regierung seit einem Jahr schreibt. Der Mythos, den er dabei zu schaffen versucht, braucht Feinde. Und zu seiner Rhetorik gehört auch, dass alle Welt sich gegen die Türkei verbündet habe, um sie zu erobern und zu unterwerfen.
Jeder sollte sich darüber im Klaren sein, wie gefährlich dieser Kurs ist. Entscheidend ist nun nicht mehr, was am Verlauf des Putsches bis heute unklar ist. Entscheidend ist das Blut, das im Namen der Demokratie vergossen wurde. Laut Erdoğan war der Putsch ein Geschenk Allahs. Für viele andere war er ein Fluch.
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