Album „A Common Turn“: Singt mehr über Cunnilingus!
Die junge Londoner Künstlerin Anna B Savage singt über weibliche Lust. Das klingt schon mal hoch theatralisch, überzeugen kann sie mit ihrem Humor.
Der Cunnilingus; für so manche*n soll schon das Wort selbst ein Zungenbrecher sein. Sein Pendant, die Fellatio, hat durchaus einen Platz in der Kulturgeschichte – denken wir nur an die Legionen von Rappern, die diese Technik immer wieder lauthals thematisieren. Indes wird die orale Befriedigung von Frauen nach wie vor stiefmütterlich behandelt. Während es im HipHop längst zum guten Ton gehört von „sucking“, vom „Blowjob“ zu erzählen, wird der Spieß vergleichsweise selten umgedreht.
Die Spotify-Playlist „hiphop songs with lyrics about cunnilingus“ enthält gerade einmal 46 Tracks. In anderen Genres sieht es auch nicht besser aus, selbst im peacigen Folkpop. Der kanadische Star Leonard Cohen plauderte in seinem Lied „Chelsea Hotel No. 2“ aus dem Nähkästchen und erzählte darin von seiner Affäre mit der Kollegin Janis Joplin. Auf dem ungemachten Bett hat sie ihm dem Songtext gemäß „head“ gegeben.
Die junge Londoner Künstlerin Anna B Savage dreht Cohens männliche Perspektive um. Ihre Version der Geschichte heißt „Chelsea Hotel #3“, hier spielt ebenso ein ungemachtes Bett eine Rolle. Der Cohen-Song selbst wird zum Utensil: Er läuft im Nebenzimmer während des Oralsex.
Eine platte Referenz? Durch den Rollentausch allein möchte sich Savage nicht profilieren, auch wenn sie Cohen damit eine ironische Referenz erweist. Sie schiebt geschickt eine eigene und eigenständige Geschichte an: Ein Songtext über verkümmerte und unterdrückte Sexualität, Phallogozentrismus und der späten Einsicht, wie gut Orgasmen sein können. „A Common Turn“, ihr Debüt, ist ein Popalbum, das immer wieder in die Gefilde von Angst und Scham, von Selbstentwertung und freudianischer Libido-Destrudo-Verschränkung abtaucht.
Das Album ist selten peinlich
Das sind wahrlich die ganz großen Geschütze, die für einen Songtext aufgefahren werden. Nicht nur einmal haben sich Songwriter:innen daran verhoben – gerade auch im jungen Alter. Seelenstriptease und internalisierter Mist: Die Stärke von Pop liegt eigentlich darin, solche Affekte wohldosiert und gesteuert zu simulieren. Wo das Authentizitätsgebot der Gesellschaft allzu deutlich durchscheint, lauern Peinlichkeiten.
Anna B Savages Album „A Common Turn“ ist gleichwohl selten peinlich. Denn die britische Künstlerin bedient sich einiger Verfremdungstricks: Humor und Künstlichkeit. Hoch theatralisch, gar nicht so weit weg etwa von den semibarocken Werken einer Anohni, die in den Anfangsjahren noch unter dem Namen Anthony and The Johnsons veröffentlicht wurden, oder auch von der US-amerikanischen Songwriterin Haley Fohr, überzeugt die Londonerin mit ihrer Stimme jenseits des Alt-Spektrums.
Ungestellt verschränkt Savage dies mit den Kieferschmerzen ihres Partners oder dem Bild des US-Schauspielers Tim Curry in Reizwäsche (berühmt geworden in dem Kultfilm „The Rocky Horror Picture Show“). Zärtlich und sinnlich wendet sich Savage ihren Ängsten und affektiven Störungen zu: In „Corncracks“ heißt es etwa „I don’t know if this is even real / I don’t feel things as keenly as I used to.“ Da fühlt jemand nicht mehr aus tiefstem Herzen.
Empfohlener externer Inhalt
Überraschen sollte das die Insider*innen nicht mehr. Schon mit ihrer kurzformatigen „EP“ (2015) konnte Savage begeistern. Ihr gehypter US-Kollege Father John Misty fragte danach an, ob Savage ihn nicht auf Tour begleiten wolle. Sie selbst gibt an, dass dieser Erfolg dennoch nichts besser, sondern alles schlimmer gemacht habe: Savage entwickelte ein Impostor-Syndrom, die Angst, als Schwindlerin, die unberechtigt Lob einfahre, aufzufliegen.
Sechs Jahre dauerte es, bis sie sich durchringen konnte, etwas zu veröffentlichen. Dies thematisiert sie stilgerecht auf dem Album im Stück „Dead Pursuits“: „Will I ever record this? / Is anyone listening? / I can’t do it.“ Man möchte ihr zurufen: Doch, mach! Wir hören gerne zu.
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