Alanis Obomsawin über Kanadas Geschichte: Der Leidensweg der Kinder
Das Haus der Kulturen der Welt in Berlin stellt das Lebenswerk der indigenen kanadischen Filmemacherin und Aktivistin Alanis Obomsawin vor.
Es macht einen gespenstischen Eindruck, jetzt Schüsse knallen zu hören im Tiergarten in Berlin, in einer Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt. Es handelt sich um echte Schüsse, fern der Ukraine, aus einem anderen Konflikt, einen ganzen Ozean und mehr als 30 Jahre Zeit entfernt. Und dennoch springen die Parallelen geradezu ins Auge. In ihrem Film „Kanehsatake – 270 Years of Resistance“ dokumentiert Alanis Obomsawin den zu einem regelrechten Krieg ausgeweiteten Kampf zwischen Angehörigen der Mohawk-Nation mit kanadischen Armee- und Polizeikräften. Letztere schützten im Jahr 1990 das Vorhaben eines Golf-Klubs, seine Anlage weiter in ein Gebiet der First Nations auszudehnen.
Fast drei Monate lang standen Menschen, die ihr Land und das ihrer Ahnen verteidigten, hochgerüsteten Militäreinheiten gegenüber. Obomsawin zeigt diese Konfrontation eindrucksvoll. Gepanzerte Fahrzeuge und Maschinenpistolen auf Seiten der Militärs. Die Mohawks hingegen sind Zivilisten, die sich, ähnlich wie zahlreiche ukrainische Zivilisten jetzt, das Gesicht mit Tarnfarben einreiben, provisorische Waffen bauen, Gräben ausheben und Barrikaden errichten.
„Kanehsatake“ ist der bekannteste Film der in ein paar Monaten 90 Jahre alt werdenden Künstlerin und Aktivistin. Er enthält viele der Elemente, die typisch sind für ihre Arbeit. Filmaufnahmen aus dem Zentrum von Konflikten verbindet sie mit ausführlichen Interviews. Künstlerische Zeichnungen eröffnen andere Denk- und Assoziationsräume.
Sie setzt auch Bilder von traditionellen Stick- und Flechtarbeiten sowie historisches Fotomaterial ein. Schicht um Schicht legt Alanis Obomsawin so den mehrere Jahrhunderte währenden Kampf der First Nations Nordamerikas gegen Kolonialisierung und Ausrottung frei.
Demütigungen der Schulzeit
Selbst gehört sie dem Volk der Abenaki an. Ihre herausragende Rolle verdankte sie einer frühen Karriere als Sängerin und Liedermacherin. Der Ausstellungsparcours im HKW beginnt mit einer Reportage aus dem Jahr 1966. Bilder der damals jungen Künstlerin werden mit Fotos aus den 1930er und 1940er Jahren konfrontiert, die indigene und weiße Kinder zeigen. Eine Erzählerstimme berichtet von den Demütigungen, denen Obomsawin während ihrer Schulzeit als einziges indigenes Kind in der Klasse ausgesetzt war.
„The Children Have To Hear Another Story“, bis 18. April, Haus der Kulturen der Welt
Sie hatte, das muss man annehmen, im Vergleich zu vielen Kindern gleichen Alters aus indigenen Familien allerdings sogar noch Glück. Denn anders als sie, die bei ihren Eltern aufwachsen durfte, wurden viele indigene Kinder vom kanadischen Staat in Internatsschulen geschickt, fernab der Familien. Ihnen wurde dort verboten, die eigene Sprache zu sprechen. Sie wurden ihrer Herkunftskultur entfremdet. Man müsse „im Kinde den Indianer töten“, lautete das von einem kanadischen Politiker sehr drastisch formulierte Ziel dieser sogenannten Bildungskampagne.
Obomsawin brachte diese Thematik früh in die kanadische Öffentlichkeit ein. In dem Porträt konstatiert sie, dass zumindest ihr als anerkannter Künstlerin die Öffentlichkeit anders begegne als noch ihre Mitschüler und deren Eltern drei Jahrzehnte zuvor. Eine wirkliche Nähe und Akzeptanz sei aber noch immer nicht erreicht.
Sammeln für ein Schwimmbad
Bereits zu jenem Zeitpunkt in den 1960er Jahren war sie Aktivistin für die Belange ihres Volkes. Sie sammelte Spendengelder für ein Schwimmbad in einer Reservation. Ihr erster eigener Film, „Christmas at Moose Factory“ (1971), beschäftigt sich mit dem Leben von indigenen Kindern in Internatsschulen.
Den Leidensweg eines Jugendlichen, der eine Odyssee durch mehr als ein Dutzend Pflegefamilien und diverse Heime mit Selbstmord beendete, arbeitete sie in dem verstörenden Film „Richard Cardinal: Cry from a Diary of a Metis Child“ (1986) auf. Damit begann zumindest eine größere Debatte über Gewalt in Pflegefamilien und die Praxis der Internate und Internatsschulen. Die Debatte flammte kürzlich wieder auf, als auf dem Gelände einer einstigen Internatsschule 215 Kinderleichen exhumiert wurden. Inzwischen sind mehrere Suchteams auf den angrenzenden Arealen ehemaliger Internatsschulen unterwegs. Weitere grausame Funde sind wahrscheinlich.
Vor allem aber verlieh Obomsawins Filmwerk dem Widerstand der First Nations Gesicht und Sprache. All ihre Langfilme sowie umfangreiches Begleitmaterial sind in der Ausstellung zu sehen. Zudem präsentiert das HKW die Filme auf der Website. (www.anotherstory.hkw.de). Und nach Ende der Ausstellung kann man sie noch immer auf der Website des kanadischen Filmboards sehen (www.nfb.ca).
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung