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Aktivistin über Flüchtlingspolitik in GB„Stolz sein, Leben zu retten“

Lisa Doyle vom britischen Flüchtlingsrat hofft auf ein Umdenken der konservativen Regierung. London sollte mehr Verantwortung übernehmen.

Alltagsszene in Calais: Ein Mann überwindet die Umzäunung des Eingangs zum Kanaltunnel nach Großbritannien. Foto: ap

taz: Frau Doyle, Flüchtlinge nehmen große Risiken auf sich, um nach Großbritannien zu gelangen. Wie gestaltet sich die Arbeit mit denjenigen, die es geschafft haben?

Lisa Doyle: Wir können nicht die Bedürfnisse aller abdecken, da wir ausschließlich von Stiftungen und privaten Spenden abhängig sind. Wenn die Frage ansteht, ob ein Flüchtling einen Status bekommt, so braucht er gerade zu diesem Zeitpunkt besonders viel Hilfe, beispielsweise bei der Wohnungs- und Arbeitssuche. Wir haben hierfür ein spezielles Programm, das allerdings nur in London läuft und nicht alle Flüchtlinge erreicht, die in Großbritannien tatsächlich Hilfe benötigen.

Aber es gibt doch in Großbritannien viel weniger Flüchtlinge als in vielen anderen europäischen Staaten?

Ja, aber das Problem ist, dass die Regierung bis 2010 solche Programme finanziell unterstützte, dies aber unter David Cameron vollkommen abgeschafft wurde, obwohl der Bedarf noch derselbe ist.

Asyl in Großbritannien

Pro Jahr werden in Großbritannien zwischen 20.000 und 25.000 Asylanträge gestellt. Die meisten Asylbewerber kommen aus Pakistan, gefolgt von Iran, Sri Lanka und Syrien. Über ihre Anträge wird innerhalb von sechs Monaten entschieden. Die Ablehnungsquote betrug zuletzt 62 Prozent. Rund ein Zehntel der Bewerber kommt in das Fast-Track-Verfahren: Wenn klar ist, dass der Fall nicht kompliziert ist, wird der Bewerber direkt in ein Auffanglager eingewiesen und kann nach wenigen Tagen abgeschoben werden. (taz)

Derselbe? Ist die Zahl der Flüchtlinge in Großbritannien denn gar nicht gestiegen?

Zwischen 2013 und 2014 stieg die Anzahl der Flüchtlinge hier nur um sieben Prozent. Trotz der globalen Flüchtlingskrise schaffen es nur wenige Betroffene in das Vereinigte Königreich.

Am vergangenen Donnerstag schien sich die Position David Camerons, nicht mehr Flüchtlinge aufzunehmen, zu ändern. Jetzt sollen doch ein paar Tausend mehr kommen dürfen.

Bild: privat

41, ist leitende Beraterin bei der britischen NGO „Refugee Council“ und dort unter anderem zuständig für die Presse­arbeit.

Unserer Kenntnis nach soll das über ein spezielles britisches Projekt für syrische Flüchtlinge vonstatten gehen, das vom Innenministerium und mit EU-Zuschüssen finanziert wird.

Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass die Quote der in Großbritannien aufgenommen Flüchtlinge auch nur annähernd an die deutsche herankommt. Kann man sagen, dass die Denkweise über Flüchtlinge innerhalb der Regierung das größte Hindernis für Ihre Organisation darstellt?

Die britische Regierung weigert sich, verschiedene Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, wie Menschen Großbritannien erreichen können. Der Grund dafür ist die Diskussion zum Thema Migration, die vom Versuch der Regierung bestimmt wird, die Gesamtzahl aller Einwanderer niedrig zu halten.

Generell hat es bisher in Großbritannien noch keine großen Demonstrationen für Flüchtlinge gegeben. Die erste ist für den 12. September in London geplant. Tendenz war bisher eher, Einwanderung als Problem zu betrachten.

Ich glaube, die Öffentlichkeit versteht vor allen nicht den Unterschied zwischen Wirtschaftsflüchtlingen und Flüchtlingen aus Krisengebieten. In den letzten Jahren hat die britische Regierung vehement versucht, die Anzahl von Wirtschafts- und EU-Migration zu senken. Das bedeutet, dass der allgemeine Diskurs in der Öffentlichkeit in Sachen Einwanderung negativ aufgeladen ist. Dies änderte sich erst in der vergangenen Woche. Seitdem liest man vermehrt von Flüchtlingen. Das mag zum Teil an dem Foto des drei Jahre alten syrischen Jungen liegen, das den Menschen klarmachte, um was eigentlich geht.

Es gab doch schon vorher schockierende Bilder von Toten im Mittelmeer und Lampedusa …

Ja, aber in der britischen Presse waren das nur wenige. Unsere Medien tendieren dazu, keine toten Körper zu zeigen. Man sah zwar Bilder von Menschen, die zusammengepfercht auf überfüllten Booten saßen, doch das Bild eines ertrunkenen drei Jahre alten Jungen war, glaube ich, besonders schockierend. Man sah die Krise auf einmal nicht mehr aus der Distanz, sondern begriff den hohen Preis, den diese Menschen bezahlen.

Wieso dauerte es bisher so lange, um an diesen Punkt zu kommen?

Es gab schon vorher ein paar Stimmen, die sich durchgehend dafür aussprachen, dass wir mehr tun könnten, aber die Debatte drehte sich fünf Jahre lang darum, wie viele Menschen nach Großbritannien einwandern dürfen und dass die Anzahl der Einwandern gesenkt werden müsse. Viele dachten, dass es in Großbritannien bereits zu viele Einwanderer gebe. Britischen Politiker sprechen zwar gerne von der „britischen Tradition“, Flüchtlinge zu schützen, aber es wurde bisher Flüchtlingen nicht geholfen, die versuchten, Großbritannien zu erreichen. Wenn Leute davon reden, dass es bereits zu viele Flüchtlinge gebe, verweisen wir gerne auf den Libanon, wo einer von vier Bewohnern ein syrischer Flüchtling ist. Großbritannien kann Einwanderung ohne Weiteres verkraften, wo doch oft und gerne vom hiesigen Wirtschaftswachstum gesprochen wird. Wir können für die Krise somit auch Mitverantwortung übernehmen, die momentan vor allen von Deutschland, Schweden, Italien und Griechenland getragen wird.

Glauben Sie wirklich, das könnte sich jetzt ändern?

Ich hoffe es. Es hat sich bereits jetzt gezeigt, dass es für die Regierung, wenn sie etwas Positives in dieser Situation tut, keine negativen Auswirkungen hat. Jetzt, nach den Wahlen, ist es ohnehin leichter geworden. Dazu kommt, dass Parlamentsabgeordnete, Medien und religiöse Führer alle Druck auf die britische Regierung ausüben. Deshalb muss sie jetzt reagieren, und sie hat dafür auch den notwendigen politischen Handlungsraum. Ich hoffe, dass sie mit etwas Ambitioniertem herauskommt und nicht nur ein paar Tausend Flüchtlinge mehr aufnehmen wird.

Was kann eine Organisation wie Ihre tun, damit die Aufnahme von Flüchtlingen Teil des öffentlichen Selbstverständnisses in Großbritannien wird?

Wir versuchen, vor allem positive Geschichten über Flüchtlinge zu verbreiten und zu betonen, dass wir stolz darauf sein müssen, wenn wir Menschenleben retten können. Die Öffentlichkeit ist generell offen für die wahren Geschichten von Flüchtlingen, die sie mit Zuneigung aufnimmt. Zusätzlich betonen wir, dass die Flüchtlingskonvention 1951 gerade deswegen ins Leben gerufen wurde, damit europäische Länder nie wieder, wie während des Zweiten Weltkriegs, Flüchtlingen die Türen verschließen. Diese Konvention, an der britische Rechtsanwälte mitgearbeitet haben, kann man als britisches Rechtsdokument verstehen. Dieses wollte sicherstellen, dass Flüchtlinge an sichere Orte gelangen.

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2 Kommentare

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  • Nach wie vor bildet die Tatsache des Wohlstandsgefälles geschützt durch Staatsgrenzen und tödliche Barrieren - und der Einsatz für Menschenrechte, Freiheit und Recht weltweit, durch die westlichen Staaten, einen nicht aufgelösten Widerspruch.

  • Was soll man auch von einem Volk erwarten, das unser Welt den Satz: "My home ist my castle" geschenkt hat?

     

    Die Briten sind auf vieles stolz. Auf ihre Traditionen, beispielsweise. Auf ihre Queen und auf Australien. Auf ihren schwarzen, trockenen Humor. Auf ihre Klassenschranken, die noch funktionieren. Auf ihre Fußballclubs und auf ihr Bier. Auf ihre Musiker, sofern sie Weltruhm eingesammelt haben. Und auch auf das, was sie ihr "Understatement" nennen und was derzeit schlecht zu erkennen ist. Auf ihre Attraktivität sind sie ganz offensichtlich nicht besonders stolz derzeit. Und dabei ist doch grade die mal ne Erfolgsstory gewesen.

     

    England war, kolonialzeitbedingt, schon Einwanderungsland, als Deutsche noch der Ansicht waren, ihr Heimatstaat sei eine Insel. Inder, Pakistaner, Leute aus Zentral- und Ostafrika und von den Westindischen Inseln sind nach dem Krieg nach England eingewandert, angezogen von einer boomenden Wirtschaft. Sie haben sich da angesiedelt, wo Arbeit nah und Wohnraum billig war, und haben Made in UK zu einem Spitzen-Label ausgebaut. Statt allerdings wieder zu verschwinden, nachdem der Boom vorüber war, sind sie geblieben. Der Staat, der sich nicht kümmern wollte, hat sie sich selbst bzw. Investoren überlassen, die leider anderswo ihr Geld anlegen wollten. Und weil sie niemand wirklich integrieren mochte, haben die Einwanderer sich auf sich selbst besonnen. Nun gibt es parallele Welten da, wo Stolz Probleme lösen soll. Das kann nicht funktionieren, denke ich.

     

    Dass Briten als besonders gastfreundlich und hilfsbereit verschrien sind, hab ich noch nie gehört. Sie lieben, heißt es, eher Konkurrenzgehabe. Wahrscheinlich glauben sie das selber auch. Es hindert sie daran, sich gut (nun ja, zumindest stolz) zu fühlen, wenn sie in dem Punkt etwas leisten. Denn dass sie auf sich selber hören könnten, nicht auf die Sun, den Herrn Premierminister oderdie Queen, kommt ihnen wohl nicht in den Sinn. Dazu sind sie zu stolze Untertanen.