Aktivisten in der Türkei angeklagt: Lebenslang für Gezi-Protest
Sie seien an den Demos im Sommer 2013 beteiligt gewesen – und sollen nun büßen. Unter den Angeklagten: Can Dündar und Osman Kavala.
Neben Kavala werden die ehemalige Sprecherin der Bürgerinitiative für den Erhalt des Gezi-Parks Mücella Yapıcı und der Schauspieler Memet Ali Alabora sowie dessen Ehefrau angeklagt. Unter den Angeklagten ist auch der Journalist und frühere Cumhuriyet-Chefredakteur Can Dündar, gegen den nach Angaben seines Anwalts noch weitere fünf Strafverfahren laufen.
Dündar ist vor mehr als zwei Jahren nach Deutschland geflohen. Auch Ali Alabora und seine Frau leben längst nicht mehr in der Türkei, sondern in London. Kavala, der ebenfalls international gut vernetzt ist, wurde dagegen im Herbst 2017 verhaftet und sitzt seitdem in U-Haft.
Kavala ist der Erbe eines Industrieunternehmens und hat sich beim türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan verhasst gemacht, weil er zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen finanziell unterstützt hat. Erdoğan nennt ihn deshalb „den Soros“ der Türkei, der angeblich im Auftrag des Auslands das Land zerstören will.
Landesweite Widerstandsbewegung
In der 657 Seiten umfassenden Anklageschrift, die die Staatsanwaltschaft am Mittwoch vorlegte, wirft sie Kavala und den anderen Angeklagten vor, sie hätten seit 2012 konspirativ die Gezi-Proteste vorbereitet. Diese entzündeten sich im Sommer 2013 daran, dass Erdoğan im letzten Park in der Istanbuler Innenstadt die Bäume abholzen lassen wollte, um dort ein Einkaufszentrum zu bauen.
Als die Polizei hart gegen die Bürgerinitiative und die sie unterstützenden Umweltschützer vorging, entwickelte sich in wenigen Wochen aus der lokalen Protestaktion eine landesweite Widerstandsbewegung gegen Erdoğans autoritären und autokratischen Regierungsstil, der die Türkei mehrere Monate in Atem hielt. Die Proteste wurden schließlich blutig niedergeschlagen. Die Angeklagten sollen nun stellvertretend für die Protestbewegung lebenslänglich ins Gefängnis.
Die lange U-Haft von Kavala hatte schon vor der Anklage auch international für Proteste gesorgt. Das von Kavala gegründete Anadolu-Kulturinstitut war mehrfach Projektpartner des Goethe-Instituts und der Mercator-Stiftung. Auch mit französischen Institutionen hat Kavala vielfach zusammengearbeitet.
Die Anklageschrift löste deshalb auch weit über die Türkei hinaus Proteste aus. Die Menschenrechtskommissarin des Europarats Dunja Mijatović sagte, die Anklage zeige, wie weit sich die Türkei von europäischen Menschenrechtsstandards entfernt habe. Auch in Deutschland, Frankreich und England kritisierten einzelne Institutionen und Abgeordnete die Anklage scharf. Der grüne Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir sagte, die Anklage zeige, dass der Rechtsstaat in der Türkei „nur noch ein Trümmerhaufen“ sei.
Am Donnerstag entscheidet das zuständige Gericht in Istanbul formal, ob es die Anklage zulässt. Danach könnte der Prozess beginnen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen