Aktionstag Schichtwechsel in Berlin: Werkstatt ist Hertha
Der eine verdient 114 Euro im Monat, der andere 100.000: Ein Aktionstag sorgt für Begegnungen zwischen freier Wirtschaft und Behindertenwerkstätten.
Ob der Fußballer denn wisse, was die Menschen hier für ihre Arbeit bekommen, fragt die Reporterin. Als der erfährt, dass das eher ein Taschengeld als echtes Gehalt ist, bleibt Esswein zwei Minuten still. Und fragt dann, in Richtung des Mechanikers: „Und wie viel arbeitest du dafür?“ Sechs Stunden am Tag, fünf Tage die Woche, sagt der Mann und kramt seinen Gehaltszettel aus einer Schublade: 113,96 Euro steht darauf. „Verkehrte Welt“, sagt der Fußballer.
Beim Aktionstag „Schichtwechsel“ tauschen Menschen aus unterschiedlichsten Berufen einen Tag lang ihren Arbeitsplatz mit Menschen, die in Behindertenwerkstätten arbeiten. Das Ziel: „Begegnungen, die Vorurteile abbauen und Wertschätzung für die Arbeit der Beschäftigten in Werkstätten bringen“, sagt Bettina Neuhaus, die Geschäftsführerin der Landesarbeitsgemeinschaft der Berliner Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Über 100 Unternehmen, Stiftungen und Behörden beteiligen sich. Den medienwirksamen Auftakt machten am Montag die drei Hertha-Spieler Esswein, Niklas Stark und Per Skjelbred.
Die Stimmung ist bestens
Nach ihrem Einsatz in der Fahrradwerkstatt geben die Fußballer noch eine Frage- und Fotorunde in der Kantine der Behindertenwerkstatt. Eine Menge Schals und Trikots in Blau-Weiß: so ziemlich alle Hertha-Fans der Berliner Behindertenwerkstätten dürften sich versammelt haben. Die Stimmung ist bestens und schraubt sich zu Fangesängen hoch, als die drei Bundesliga-Spieler versprechen, im kommenden Lokal-Derby Union plattzumachen. Und doch geht es nicht nur um Fußball. „Könnt ihr nicht euer Geld an die Behindertenwerkstätten geben?“, fragt eine Frau die Hertha-Spieler. Ernst nimmt den Vorschlag natürlich keiner, aber er hat einen ernst zu nehmenden Kern. Das Thema Bezahlung ist immer wieder Diskussionsstoff in den Werkstätten.
17 Träger von Behindertenwerkstätten gibt es in Berlin. Ihre rund 8.600 Auszubildenden und Beschäftigten reparieren Fahrräder, montieren Teile für große und kleine Unternehmen, arbeiten in Großwäschereien, Gärtnereien, Druck- und Kunstwerkstätten. Rechtlich sind die Beschäftigten der Werkstätten keine Arbeitnehmer, ihr Status ist „arbeitnehmerähnlich“. In den Werkstätten genießen sie besonderen Schutz und Betreuung. Aber sie müssen auch „ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung“ erbringen und dürfen nicht zu viel Pflege oder Betreuung beanspruchen. Für ihre Tätigkeit erhalten die Beschäftigten ein Arbeitsentgelt von wenigen hundert Euro.
Der Aktionstag: „Schichtwechsel“ ist eine Aktion der Landesarbeitsgemeinschaften der 17 Berliner Werkstätten für behinderte Menschen und der Werkstatträte als gewählte Interessenvertretungen der Beschäftigten. Am 24. Oktober tauschen über 500 MitarbeiterInnen aus rund 100 Unternehmen und Organisationen sowie den 17 Berliner Werkstätten ihre Arbeitsplätze.
Das Problem: Die Aktion soll Vorurteile abbauen und Beziehungen zwischen dem allgemeinen Arbeitsmarkt und den Werkstattbeschäftigten anbahnen. Tatsächlich erfüllt vor allem ein Großteil der nichtstaatlichen Unternehmen die gesetzlich vorgeschriebene Beschäftigungsquote für Menschen mit Schwerbehinderung nicht. Auch die taz gehört dazu. (mah)
Es gibt sehr grundsätzliche Kritik am System der Werkstätten. Das Deutsche Institut für Menschenrechte überwacht die Einhaltung der UN-Behindertenrechtskonvention und hat in einem Positionspapier die Schaffung eines inklusiveren Arbeitsmarkts angemahnt, der die Behindertenwerkstätten als ausschließendes System letztlich überflüssig macht. Tatsächlich sind die Zahlen der Beschäftigten in Behindertenwerkstätten seit Inkrafttreten der UN-Konvention 2009 aber gestiegen – die Beschäftigungsquote schwerbehinderter Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt ist dauerhaft niedrig. Es gibt, auch in Berlin, vielversprechende Beispiele für inklusive Unternehmen und Ausbildungskonzepte. Aber sie bleiben die Ausnahme, für die allermeisten der Beschäftigten in Behindertenwerkstätten ist die Arbeit dort alternativlos.
„Lohn aus einer Hand“
Marco Bukschat ist gewählter Mitarbeitervertreter in der Werkstatt, die die Hertha-Spieler besucht haben. Er ist an Multipler Sklerose erkrankt und schätzt die größere Freiheit, die die Werkstatt ihren MitarbeiterInnen gibt. „Der Druck draußen macht die Leute noch kränker.“ Aber das Problem der Bezahlung sieht auch er. Die Wirtschaftsunternehmen brächten ihre Sachen zur Montage in die Werkstatt, aber bezahlt werden die Mitarbeiter nicht wie „draußen“. „Das hat auch einen Ausbeutungscharakter“, so Bukschat.
Fast alle Menschen, die in Werkstätten arbeiten, beziehen zusätzlich Sozialhilfe. „Das fühlt sich einfach falsch an“, sagt auch Bettina Neuhaus. Aber die Werkstätten hätten kaum Spielraum, jeden zusätzlichen Verdienst, auch Urlaubs- oder Weihnachtsgeld bekämen die Beschäftigten sofort von der Sozialhilfe abgezogen. Schon lange forderten die Werkstätten den „Lohn aus einer Hand“: Der würde zwar weiter vom Staat bezuschusst, aber direkt von der Werkstatt ausgezahlt. Auch die Einhaltung des Mindestlohns für die effektiv geleisteten Arbeitsstunden ist im Gespräch. Die Bundesregierung wurde vor wenigen Monaten mit einem „Entschließungsantrag“ beauftragt, das bestehende Entgeltsystem in den Werkstätten binnen der nächsten vier Jahre auf den Prüfstand zu stellen. „Jetzt hoffen wir endlich auf ein Berliner Modellprojekt“, sagt Neuhaus. „Warum nicht schon im kommenden Jahr?!“
Am heutigen Aktionstag findet indes nicht nur der Gegenbesuch bei Hertha statt, auch mit Arbeitssenatorin Elke Breitenbach (Linke) tauscht die Beschäftigte einer Behindertenwerkstatt den Arbeitsplatz – für eine Revolution des Werkstattsystems wird das wohl nicht reichen. Aber, so heißt es aus dem Haus der Senatorin: „Wir sind auch für den Lohn aus einer Hand und fordern den Bund auf, die Voraussetzungen dafür zu schaffen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles
Israels Brüche der Waffenruhe
Die USA sind kein neutraler Partner