Afrodiasporische Schriftstellerinnen: Hoffen auf die Köchin Halima
Seit über fünfzig Jahren schreiben afrikanische Schriftstellerinnen aus der Diaspora. Zunehmend blicken sie auf Kolonialismus und Sklavenhandel.
Zu den Hinterlassenschaften des Kolonialismus in Afrika gehört auch, dass sich eigenständige afrikanische Literaturen nicht entwickeln konnten. Als die europäischen Kolonisatoren den Kontinent in ihre Gewalt brachten, wurde die Lebensweise der lokalen Ethnien von der Kultur ihrer Besatzer überformt, Bildung fand zusammen mit christlicher Mission und in der Sprache der Kolonialherren statt.
Die afrikanischen Schriftsteller*innen, deren Romane und Dramen seit den 1950er Jahren internationale Aufmerksamkeit erlangten, hatten überwiegend in den Ländern des globalen Nordens studiert. Ihre Bücher wurden dort, in der sogenannten Diaspora, publiziert und fanden danach erst den Weg nach Afrika.
Das hat sich bis heute kaum geändert. So leben und schreiben die meisten afrodiasporischen Autor*innen in einem kulturellen „Dazwischen“ und richten in ihren Romanen den berühmten fremden Blick von Migranten auf Lebenswelten, denen sie in einem gebrochenen Verhältnis verbunden sind.
Als die Nigerianerinnen Flora Nwapa (1931–1993) und Buchi Emecheta (1944–2017) in den 1960er und 70er Jahren die literarische Bühne betraten, erweiterten sie die afrodiasporische Literatur, bis dahin eine rein männliche Domäne, um die Perspektive afrikanischer Frauen.
Flora Nwapa: „Efuru“, erhältlich bei Kindle
Buchi Emecheta: „Zwanzig Säcke Muschelgeld“, Unionsverlag, vergriffen
Tsitsi Dangarembga: „Der Preis der Freiheit“, Rowohlt Verlag, gebraucht erhältlich
Chimamanda Ngozi Adichie: „Americanah“, Fischer Verlag
Chinelo Okparanta: „Unter den Udala Bäumen“, Verlag Das Wunderhorn
Ayobami Adebayo: „Bleib bei mir“, Piper Verlag
Yaa Gyasi: „Heimkehren“, Dumont Verlag
Ayesha Harruna Attah: „Die Frauen von Salaga“, Diana Verlag
Petina Gappah: „Aus der Dunkelheit strahlendes Licht“, Fischer Verlag
In ihren Romanen müssen die Protagonistinnen mit einer gesellschaftlichen Situation umgehen, die durch die Entwicklung Nigerias von einer vorkolonialen Stammesgesellschaft zu einem kolonialen beziehungsweise postkolonialen Staat entstanden ist: Die patriarchalen Strukturen bestehen fort, aber die eigenständigen Lebensmöglichkeiten, die die traditionelle Lebensweise in der Stammesgesellschaft den Frauen bot, gibt es nicht mehr.
Scheitern einer alleinerziehenden Mutter
Während die stolze Efuru in Nwapas gleichnamigem Roman (1966, dt. 1997) ihr Kind in den 1890er Jahren noch mithilfe der Dorfgemeinschaft großziehen und daneben fischen und Handel treiben kann, scheitert die verarmte und wurzellose Nnu Ego in Emechetas „Zwanzig Säcke Muschelgeld“ (1979, dt. 1983) im Lagos des 20. Jahrhunderts daran, zugleich alleinerziehende Mutter und erwerbstätig zu sein.
Emecheta verwendet in ihren Romanen große Sorgfalt darauf, den männlichen Sozialtypus zu schildern, der aus der Auflösung der traditionellen afrikanischen Sozialstrukturen hervorgegangen ist: arbeitsscheu, parasitär, machtvollkommen und im Zweifel auch gewalttätig. Für Emechetas Protagonistinnen Adah (in „Die Geschichte der Adah“ 1974, dt. 1987) und Kehinde (in dem gleichnamigen Roman von 1994, dt. 1996) ist es die moderne englische Gesellschaft, die es ihnen ermöglicht, sich aus der Unterdrückung durch ihre Ehemänner zu befreien.
Auch Tsitsi Dangarembgas (*1959) Protagonistin Tambudzai in „Aufbrechen“ (1988, dt. zunächst unter dem Titel „Der Preis der Freiheit“ 1991) setzt alles daran, die Grenzen des ihr vorgezeichneten Lebens zu übersteigen. In ihrer simbabwischen Kleinbauernfamilie sichern die Frauen durch mühselige Plackerei den Lebensunterhalt, während Vater und Bruder jeder Arbeit aus dem Weg gehen und dabei pausenlos die Überlegenheit des männlichen Geschlechts reklamieren.
Erst als ihr Bruder an einem Fieber stirbt, darf Tambudzai an seiner Stelle eine Missionsschule besuchen und im Haushalt ihres Onkels, des Leiters der Missionsschule, leben. Sie lernt dort einen modernen, am Vorbild des englischen „Mutterlands“ orientierten Mittelschichtsalltag kennen – in dem die Frauen jedoch genauso unfrei sind wie in Tambudzais dörflicher Herkunftsfamilie.
Emotionale Tiefendimension
Durch ihre Fähigkeit, den eigenen widersprüchlichen Gefühlen nachzugehen, gewinnt Tambudzai eine emotionale Tiefendimension, die den Protagonistinnen bei Nwapa und Emecheta überwiegend noch abgeht. Insofern bildet „Aufbrechen“ eine Art Brücke zwischen der frühen Literatur afrikanischer Frauen und späteren, psychologisch ausdifferenzierten Romanen.
Wie zum Beispiel „Americanah“ (2013, dt. 2014), der Publikumserfolg der nigerianischen Autorin Chimamanda Ngozi Adichie (*1977). Als Wanderin zwischen den Kontinenten richtet die Protagonistin Ifemulu ihren kritischen Blick auf den US-amerikanischen Rassismus wie auch auf die fortbestehende Unfreiheit der nigerianischen Frauen.
Die gesellschaftlichen Verhältnisse in den USA erweitern nicht, wie das England Emechetas, die Lebensmöglichkeiten der afrikanischen Immigrantin, sondern Ifemulu erlebt hier, wie sie aufgrund ihrer Hautfarbe von kultureller Zugehörigkeit ebenso wie von jeder wirtschaftlichen Sicherheit ausgeschlossen bleibt.
Auch die Nigerianerinnen Chinelo Okparanta (*1981) und Ayobami Adebayo (*1988) haben Romane von großer psychologischer Tiefen geschrieben: In „Unter den Udala Bäumen“ (2015; dt. 2018) und „Bleib bei mir“ (2017) stehen die weiblichen Hauptfiguren im Konflikt mit traditionellen Normen ihres Heimatlandes, in dem Homosexualität oder Kinderlosigkeit hart sanktioniert werden. Beiden Protagonistinnen gelingt es nur unter großen persönlichen Opfern, dem Druck von Familie und Gesellschaft zu widerstehen.
Beinahe könnten Leser*innen meinen, die neuere afrodiasporische Literatur beschäftige sich hauptsächlich mit der Gegenwart afrikanischer Gesellschaften, da erscheinen auf dem internationalen Buchmarkt gleich drei Romane, die die Vergangenheit des Kontinents in den Blick nehmen. Es geht um die großen Katastrophen der afrikanischen Geschichte, um Sklaverei, Menschenhandel und koloniale Überwältigung.
Die Brutalität des Sklavenhandels
In den Romanen der ghanesischen Autorinnen Yaa Gyasi (*1989) und Ayesha Harruna Attah (*1983), „Heimkehren“ (2016) und „Die Frauen von Salaga“ (2018, dt. 2019) entwickelt sich die Handlung vor dem Hintergrund des westafrikanischen Sklavenhandels im 19. Jahrhundert, der in seiner ganzen Brutalität beschrieben wird: die Kriege afrikanischer Stämme gegeneinander, das Morden und Brandschatzen, der Verkauf der Überlebenden an lokale Sklavenhalter oder englische Händler, die ihre menschliche Fracht in die Neue Welt überstellen.
Am Ende des 19. Jahrhunderts, in dem schmalen Zeitfenster zwischen transatlantischem Sklavenhandel und der Kolonialisierung Afrikas, spielt der Roman der simbabwischen Autorin Petina Gappah (*1971) mit dem vieldeutigen Titel „Aus der Dunkelheit strahlendes Licht“ (2019).
Er greift ein bekanntes historisches Ereignis auf: Nach dem Tod des britischen Missionars und Afrikaforschers David Livingstone 1873 trugen seine afrikanischen Gefolgsleute, mehrheitlich befreite Sklaven, seinen Leichnam in einem mehrmonatigen Leichenzug von Zentralafrika bis an die Ostküste, damit er in seiner Heimat begraben werden konnte.
Von ihren Beweggründen zeichnet der Roman ein facettenreiches Bild. Respekt und sogar Zuneigung für den Expeditionsleiter stehen neben individuellen Wünschen nach Freiheit, Sicherheit oder persönlichem Vorteil. Eine kollektive Erzählstimme weist zu Beginn des Romans auf einen unbeabsichtigten Nebeneffekt des Leichenzugs hin: Die wissenschaftlichen Aufzeichnungen Livingstones, die zusammen mit seinem Leichnam an die Engländer übergeben wurden, bereiteten den Weg für die spätere Unterwerfung des Kongos durch die Europäer.
Kein unschuldiges vorkoloniales Afrika
Es gibt in diesem Roman jedoch auch kein unschuldiges vorkoloniales Afrika. Die ostafrikanischen Stämme nehmen Sklaven unter ihren Gegnern und sogar in der eigenen Familie und verkaufen sie an swaheli-arabische Sklavenhändler, deren Marktplatz das Sultanat Sansibar ist. Es sind britische Abolitionisten, die den 14-jährigen Jacob Wainwright aus einem Sklavenschiff befreien und an eine Missionsschule in Indien bringen.
Als selbsternannter Schreiber des Leichenzugs und als Wanderer zwischen den Kontinenten könnte der erwachsene Jacob Wainwright den fremden Blick entwickeln, der Kulturen kritisch vergleicht, aber seine Kindheitserfahrungen haben ihn gebrochen und zur Karikatur eines Europäers werden lassen. Seine Aufzeichnungen mit ihrer gestelzten, von Bibelzitaten durchzogenen Sprache erinnern daran, dass es einen Zugang zur afrikanischen Vergangenheit nur über die schriftlichen Zeugnisse derjenigen gibt, die durch Mission und Bildung in die ideologische Nähe der Kolonisatoren gerückt waren.
Am Schluss des Romans blitzt so etwas wie die Möglichkeit eines anderen, in der unseligen Geschichte der beiden Kontinente unter Gewalt und Zorn begrabenen Verhältnisses zwischen Europäern und Afrikanern auf. Denn die Köchin Halima, als sie endlich ihren Lebenstraum erfüllen und als freie Frau in ihre Heimat zurückkehren kann, räumt der Erinnerung an ihren Befreier Livingstone einen freundlichen Ort in ihren Gedanken ein.
Für sich erfindet Halima eine afrikanische Patchwork-Identität: In ihre Haustür lässt sie Ornamente aus verschiedenen Kulturen Ostafrikas schnitzen und verlässt das arabische Sansibar, um in Ostafrika eine neue Heimat zu finden.
Die Position des kulturellen „Dazwischen“, die Freiheit, verschiedene Lebensweisen und kulturelle Ordnungen zu kennen und gedanklich wie lebenspraktisch zwischen ihnen zu navigieren, sie ist in diesem Roman einer Frau zugefallen, einer ehemaligen Sklavin ohne jede formale Bildung, aber mit einem von kolonialen Beschädigungen weitgehend unbeeinträchtigten Blick.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Koalitionsvertrag in Brandenburg steht
Denkbar knappste Mehrheit
Verfassungsrechtler für AfD-Verbot
„Den Staat vor Unterminierung schützen“