Nicht alles umsonst

War der Afghanistan-Einsatz der falsche Krieg? Gegenfrage: Zählt es nichts, dass eine Generation von Afghaninnen zur Schule gehen und berufstätig sein konnte?

Nicht zu handeln kann ebenso großen Schaden anrichten wie ein Militäreinsatz. Schuldig werden kann man auf die eine wie die andere Weise

Von Silke Mertins

Es sind Bilder, die sich für immer ins Gedächtnis einbrennen: Afghanen, die sich an ein Transportflugzeug der U.S. Airforce klammern und kurze Zeit später vom Himmel fallen. Sie erinnern an die Aufnahmen vom 11. September, als Amerikaner aus den brennenden Twin Towers sprangen. Die grausigen Szenen markieren den Anfang und das Ende eines 20-jährigen westlichen Militäreinsatzes, der nun in der erneuten Machtübernahme der radikalislamischen Taliban mündet.

Die öffentliche Debatte und die Äußerungen der allermeisten Po­li­ti­ke­r*in­nen in Deutschland drehen sich um die Frage der Evakuierung von Ortskräften. Und es stimmt ja: Es macht fassungslos, dass die Bundesregierung wertvolle Zeit hat verstreichen lassen. So berechtigt die Empörung ist, so bequem ist sie gleichzeitig. Vom grünen Spitzenduo Robert Habeck und Annalena Baerbock über die FDP bis hin zu Unionspolitikern – sie alle erwecken den Eindruck, als gäbe es nicht noch 20 Millionen andere, die den Taliban nicht entfliehen können. Es geht dabei aber nicht nur um die Frauen, die sich politisch für ihre Rechte eingesetzt haben. Es reicht den Taliban schon, wenn eine vielleicht mal Fußball gespielt, gesungen oder ein allzu selbstständiges Leben geführt hat. Es reicht auch, Hazara zu sein, eine schiitische Minderheit in Afghanistan, die von den ethnisch und politisch dominierenden Paschtunen verachtet und von den Taliban als Häretiker angesehen werden.

Mit der Fokussierung auf die Evakuierungen drückt man sich vor der eigentlichen Frage: War alles umsonst? War es der falsche Krieg, wie Kolumnistin Bettina Gaus im Spiegel schreibt? Nun, auf jeden Fall können sich alle, die schon immer gegen den Afghanistan-Einsatz waren, bestätigt fühlen. Doch stellen wir uns einmal für einen Augenblick vor, der Nato-Bündnisfall hätte nur zu ein paar Wochen Luftangriffen geführt. Es wäre kaum gelungen, international operierende Terrorgruppen wie al-Qaida vom Hindukusch zu vertreiben. Und selbst wenn – was ist mit der afghanischen Bevölkerung selbst? Ist es nichts wert, dass in den 20 Jahren eine ganze Generation junger Frauen heranwachsen konnte, die zur Schule gehen und berufstätig sein durfte? Spielt es keine Rolle, dass die bis dahin brutal unterdrückten Hazara ein regelrechtes „Bildungswunder“ zustande brachten? Ist es egal, dass das Land – für afghanische Verhältnisse – zwei Jahrzehnte relative Stabilität erlebte?

Das Afghanistan von heute ist nicht mehr vergleichbar mit dem von 2001. Die afghanische Gesellschaft hat weithin sichtbare Politikerinnen, Rechtsanwältinnen und Journalistinnen erlebt, Men­schen­rechts­ak­ti­vis­t*in­nen und halbwegs demokratische Wahlen. Es hat bisher Orte relativer Freiheit gegeben, eine weibliche Fußballnationalmannschaft und Medienvielfalt. All das ist nicht nichts. Gerade die jüngeren Af­gha­n*in­nen haben in den zwei Jahrzehnten eine Vorstellung davon bekommen, wer sie sein könnten und welches Potenzial ihr Land hat.

Unfreiwillig komisch wirkt dagegen, was Gregor Gysi in der Talkshow „Maischberger“ zu sagen hatte. Er schlug als Alternative zur militärischen Intervention in Afghanistan allen Ernstes „Wandel durch Annäherung“ vor. Hätte ja bei Willy Brandt und der DDR auch geklappt.

Nicht nur CDU und SPD wollen jetzt mit den Taliban reden, sondern auch Außenpolitiker einer feministischen Partei wie die Grünen, wenn Jürgen Trittin sagt: „Der Versuch, Afghanistan ohne die Taliban zu regieren, ist schlicht und ergreifend gescheitert.“ Also hätte man es lieber mit den Taliban probieren sollen? Eine absurde Vorstellung. Die Taliban können keine Verhandlungspartner sein.

Wer Militärinterventionen grundsätzlich ablehnt, dem muss klar sein, was es weltpolitisch bedeutet: zusehen, wenn anderswo großes Leid geschieht – wie in Ruanda, in Syrien oder bei den Jes­si­d*in­nen im Irak. Nicht zu handeln kann ebenso großen Schaden anrichten wie ein Militäreinsatz. Schuldig werden kann man auf die eine wie die andere Weise.