Afghanistan-Krieg: Holland geht
Am Sonntag beginnen die Niederländer mit dem Abzug ihrer Truppen. Verfrüht, meinen Militärs und zivile Helfer vor Ort. Ihr Abzug könnte das Ende moderater Fortschritte bedeuten.
TARINKOT/KABUL taz | Matiullah ist der wichtigste Mann in der südafghanischen Provinz Urusgan. Und er ist der ungekrönte König der Straße. Genauer: der strategisch wichtigen, aber gefährlichen Route von der Provinzhauptstadt Tarinkot nach Kandahar. Einigermaßen sicher zu passieren ist diese nur am "Konvoi-Tag", den der hochgewachsene, charismatische Mann mit spitzbübischem Lachen ein- bis zweimal die Woche organisiert.
Von dessen Männern bewacht quälen sich dann Lkws über die ungepflasterte Piste und transportieren Passagiere und Güter. Matiullahs größte Kunden: die Nato-Truppen in der Provinz. 2.000 bis 3.000 Dollar pro Truck zahlen ihm das niederländische Provinzwiederaufbauteam (PRT) im "Kamp Holland" von Tarinkot, die Australier in demselben Camp und die in der Nähe stationierten US-Special Forces für den Transport von Wasser oder Treibstoff.
Keine Frage, Matiullah, den die niederländischen Soldaten und Diplomaten nur "M" nennen, ist einflussreicher als der Gouverneur oder der Polizeichef. Seine Macht wächst und wächst, etwa 2.000 Mann hat er derzeit unter seinem Befehl. Und seine Geschäfte mit der Nato machen ihn immer reicher.
Der Einsatz: Seit August 2006 unterhalten die Niederlande ein Kontingent von rund 1.500 Soldaten in Afghanistan. Als Task Force Urusgan haben diese das Kommando über die Isaf-Streitkräfte in der südafghanischen Bergprovinz. 24 niederländische Soldaten kamen dabei ums Leben (darunter ein Suizid).
Das Ziel: Offiziell dient der Einsatz der Sicherheit und dem Wiederaufbau. Doch von Anfang an war der Einsatz auch stark militärisch ausgerichtet. Allein bei der "Schlacht von Tschora" im Juni 2007 wurden 60 Zivilisten, 16 afghanische Polizisten, 2 niederländische, 1 US-Soldat und 71 Taliban getötet. Auf deren Seite kämpfte wohl auch die Miliz von Exgouverneur Dschan Mohammed.
Der Rückzug: In den Niederlanden hat die gesellschaftliche Unterstützung des Einsatzes nach der Verlängerung des zunächst zweijährigen Mandats deutlich abgenommen. Christdemokraten, Rechtsliberale und Sozialdemokraten beschlossen 2007 einen Verbleib bis 2010. Im Frühjahr stürzte die niederländische Regierung über die Frage einer erneuten Verlängerung, weil die Sozialdemokraten auf dem Ende der Mission bestanden. Am 1. August geben die Niederlande das Kommando in Urusgan an die USA ab, bis Jahresende sollen alle niederländischen Truppen Afghanistan verlassen haben.
An M scheiden sich die Geister in Urusgan. Umstritten ist er nicht unter den Einheimischen, auch die US-amerikanischen und die niederländischen Militärs pflegen einen höchst unterschiedlichen Umgang mit ihm, der beispielhaft zeigt, wie sehr die Nato in Wirklichkeit von der viel zitierten "einheitlichen Strategie" entfernt ist.
Die Niederländer sind, jedenfalls noch bis zu ihrem Abzug, der am Sonntag beginnt, "Führungsnation" in der Provinz. Seit sie im Jahr 2006 diese Aufgabe übernommen hatten, haben sie versucht, eine Politik des Ausgleichs zu betreiben - und die Auswirkungen der Operationen zu lindern, die die Special Forces hier angerichtet haben.
Diese waren schon seit 2001 in der Provinz und halfen dem damaligen Stammesführer Hamid Karsai bei seinem kleinen Aufstand gegen die Taliban, der ihn für das Präsidentenamt in Kabul qualifizieren sollte. Am Ende waren es US-Kommandos, die ihn vor den Taliban retteten.
Nach dem Sturz der Taliban wurde Ms Verwandter Dschan Mohammed Gouverneur der Provinz. Seinen Kollegen im benachbarten Helmand und Kandahar ähnelnd, nutzte er das Amt allein zum eigenen Vorteil und dem seiner Klientel, den Popalsai-Paschtunen, zu denen auch der Präsident gehört. Stark wurde er durch seine engen Verbindungen zu Karsai und zu den Special Forces, die gerade in der Anfangszeit auf Bestellung verhafteten oder töteten, weil sie blind auf die Informationen ihrer regionalen Verbündeten vertrauten.
Viele der ausgeschlossenen Stämme und Clans, abgestoßen von einem unfairen Gouverneur und der rapide um sich greifenden Korruption, wehrten sich mit Waffengewalt, ein Stammeskrieg war die Folge.
Noch bevor sie ihre Aufgabe in Urusgan übernahmen, bewegten die Niederländer Karsai dazu, Dschan Mohammed zu entlassen. Ihnen war klar, dass eine Befriedung der Provinz mit ihm als Gouverneur nicht möglich war. Viele Urusganer dankten es ihnen. Aber eines gelang ihnen nicht: zusammen mit Dschan Mohammeds auch dessen rechte Hand, nämlich Matiullah, zu entmachten.
Nach der Absetzung des Gouverneurs verwandelte der seine Kämpfer kurzerhand in eine private Sicherheitsfirma. Während die Niederländer im Folgenden zumindest jeden offiziellen Kontakt mit ihm vermieden, um die schwache örtliche Regierung nicht weiter zu beschädigen, besuchten US-Soldaten ihn fast täglich. Und sie rüsteten Matiullahs Miliz mit Jeeps, Generatoren und Satellitentelefonen aus und ließen ihn einen Privatkrieg führen - auch gegen Leute, die die Niederländer für versöhnlich hielten. Immerhin konnten die Niederländer verhindern, dass M entsprechend dem Wunsch der Amerikaner zum Polizeichef ernannt wurde. Im Sommer 2009 wurde der Konflikt um M sogar halb öffentlich ausgetragen, als die Niederländer Matiullah verdächtigten, für einen Überfall auf einen ihrer Nachschubkonvois verantwortlich zu sein. Schon zuvor hatten sie vermutet, dass M manche Attacken nur vortäuschte, um im Sicherheitsgeschäft zu bleiben und seinen Preis hochzuhalten, während die Amerikaner ihren Günstling gegen diese Anschuldigungen verteidigten.
Matiullah steht für jene halblegalen, bewaffneten und korrupten Strukturen, mit deren Hilfe die USA kurzfristige Stabilität herzustellen versuchen, ohne die grundlegenden Ursache der Instabilität zu lösen. Genau darum bemühten sich die Niederländer. Ihnen gelang es, die Führer jener von Dschan Mohammed und Matiullah ausgegrenzten Stämme Urusgans schrittweise zurückzuholen, indem sie sie nicht als militärische Ziele behandelten. Obwohl sie sich in Pakistan den Taliban angeschlossen hatten, garantierten ihnen die Niederländer, sie deswegen nicht zu behelligen.
Da die meisten Urusganer diese Vorgehensweise befürworteten, gab es trotz vergleichbar geringen niederländischen Mitteleinsatzes einen moderaten Fortschritt in der Provinz. Sie gehört nicht zu den Hauptkampfgebieten Afghanistans. Die stärker besiedelten Gebiete nahe der Provinzhauptstadt wurden sicherer. In Tarinkot werden Polizisten ausgebildet, dutzende Nichtregierungsorganisationen sind aktiv. Mit "Projekten unter dem Radar" etablierten die Niederländer auch Kontakte in jene Teile Urusgans, die unter Talibaneinfluss stehen.
Viele hochrangige niederländische Militärs und Zivilisten in Tarinkot sind deshalb unzufrieden mit der politischen Entscheidung, Urusgan zu verlassen. Sie halten den Rückzug für verfrüht. Niederländische Entwicklungshelfer in Urusgan wie Lou Cuypers, die hilft, Safran zu produzieren, stimmen zu: "Jetzt, da die Entwicklung beginnt Früchte zu tragen, beschließt unsere Regierung abzuziehen. Das ist nicht besonders clever. Ich werde bleiben, aber die Amerikaner haben hier einen ziemlich schlechten Ruf. Ich befürchte, dass es hier gefährlicher werden wird."
Unterdessen versuchten die Leiter von Kamp Holland, ihre Strategie des Fingerspitzengefühls ihren Nachfolgern, den Australiern und Amerikanern, schmackhaft zu machen. Zwar klang der neue amerikanische Kommandant in Urusgan, Oberst James Creighton, vorige Woche bei einem Interview sehr niederländisch, als er das "Gleichgewicht zwischen den Stämmen" beschwor, aber die Frage ist, was seine Truppen - und insbesondere die Special Forces - tun werden.
Schon Vorauskommandos hatten Besuchern gern erzählt, in Urusgan würde ab jetzt "in Ärsche getreten". Ein hoher niederländischer Offizier im Lager bezweifelt, dass die Amerikaner "die Macht des Königs beschneiden" werden. Der hat gerade den Vertrag dafür erhalten, auch auf der Straße von Kandahar nach Kabul für Sicherheit zu sorgen.
Viele Urusganer rechnen deshalb mit einem Rückschlag, wenn die Niederländer gehen. Nicht wegen der Taliban, sondern wegen eines ungebremsten Matiullah, der sich wie der Präsidentenbruder Ahmed Wali Karsai im benachbarten Kandahar endgültig zum örtlichen Despoten aufschwingen könnte. "Jeder, der Matiullahs Vorstellungen ablehnt, wird verfolgt werden", sagt ein junger Afghane in Tarinkot, der seinen Namen nicht in der Zeitung sehen möchte, weil er für die Amerikaner arbeitet, aber die Niederländer lobt. "Es wird einen neuen Stammeskrieg geben", prophezeit er. Der Distriktchef im benachbarten Tschora, ein typischer Verbündeter der Niederländer, sagt, dass er nun Angst um sein Leben habe. "Vielleicht mögen die Amerikaner mich ja. Aber die afghanische Verwaltung ist immer noch in Matiullahs Händen, und die wollen mich töten."
Der sitzt derweil nonchalant mit seinen Besuchern im Gästezimmer seines Hauses in Tarinkot an einem Tisch mit weißem Porzellan, einem Dutzend Fotos, die ihn zusammen mit US-Soldaten zeigen, und Medaillen, die er von ihnen erhalten habe. Er lädt seinen Zorn über die Stammesführer ab, die die Niederländer aus dem Exil zurückgebracht haben. Es gehe nicht um irgendwelche persönlichen Konflikte, sondern um Taliban, und die Holländer seien Narren, ihn zu ignorieren, sagt er und fügt hinzu: "Wollen sie einen anderen Stamm an die Macht bringen? Dann sollten sie wirklich besser nach Hause gehen."
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