Afghanistan-Aufnahmeprogramm: Bemänteltes Staatsversagen
Deutschland nimmt 535 Afghan*innen mit einer Aufnahmezusage nun doch auf, andere aber nicht. Ihr Schicksal wird ungewiss sein.
D ie Bundesregierung bereinigt Deutschlands Afghanistan-Konto – 24 Jahre nachdem sie Soldat*innen und zivile Helfer*innen mit Versprechen von Demokratie und Menschenrechten im Marschgepäck an den Hindukusch beorderte und viereinhalb Jahre nachdem sie gescheitert wieder abzog. Nach schlechter alter bürokratischer Sitte unterteilt sie die verbliebenen lokalen Verbündeten in bundesverfassungsgerichtsfeste Kategorien: Die einen werden doch noch vor den Taliban gerettet, die anderen müssen sehen, wo sie bleiben.
535 Menschen aus zwei Aufnahmeprogrammen sollen wie versprochen bis Jahresende doch noch ausgeflogen werden. 640 anderen aus zwei anderen Programmen wurde mitgeteilt, an ihnen bestehe „kein politisches Interesse mehr“. „Mehr“ – denn auch ihnen war die Aufnahme zugesagt worden. Hunderte andere traf das schon vorher, infolge einer rechten Verleumdungskampagne über angeblich einsickernde Islamist*innen, auf die auch die damals noch oppositionelle CDU/CSU aufsprang.
Diese Menschen tauchen kaum noch in den Medien, geschweige denn in den Zahlen der Bundesregierung auf. Vertrauen in den Schutz durch den deutschen Rechtsstaat, das die Betroffenen bis zuletzt hegten: Fehlanzeige. Vor allem NGO-Mitarbeiter*innen sind offensichtlich Verbündete zweiter Klasse.
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Die Unglücklichen, für die Innenminister Dobrindt im Namen der regierenden CDU/CSU und SPD seinen Daumen senkte, erwartet, wenn bei uns die Silvesterkorken knallen, ihre Abschiebung zu den Taliban. Sind sie erst über die Grenze, kann niemand mehr nachprüfen, was aus ihnen wird. Das Taliban-Regime unterhält zwar keine Lager für missliebige Landsleute – aber willkürliche Haft, Folter und „Verschwindenlassen“ sind an der Tagesordnung. UN und EU können sich im Land kaum bewegen. Ausländische Reporter*innen gibt es kaum noch, einheimischen droht bei Recherche Verfolgung.
Die Aufnahme von noch ein paar hundert Menschen kurz vor Ultimo ist keine nette Geste, sondern soll Staatsversagen bemänteln.
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