Ackergift schädigt Embryonen: EU verbietet hochgiftiges Pestizid
Die EU-Staaten stimmen dafür, das Insektengift Chlorpyrifos vom Markt zu nehmen. Es war jahrzehntelang wegen irreführender Herstellerangaben zugelassen.
Die EU-Länder könnten dann nur noch „eine kurze Übergangsfrist“ von höchstens drei Monaten einräumen, erklärte die Kommission. „Danach dürfen solche Pflanzenschutzmittel in der EU nicht mehr auf den Markt gebracht oder benutzt werden.“
Die Kommission begründete die Verbote mit einem Gutachten der EU-Behörde für Lebensmittelsicherheit (Efsa) von Anfang August. Darin hieß es, dass Chlorpyrifos Embryonen schaden könne und nicht zugelassen sein dürfte. In einem Versuch im Auftrag des Herstellers Dow von 1998 seien die Kleinhirne von Ratten kleiner gewesen, deren Eltern das Insektengift gefressen hatten. Die spanischen Behörden, die das Mittel ab 1999 für die EU überprüft hatten, sahen aber kein Problem. Deshalb erteilte die EU 2005 eine Genehmigung für den Wirkstoff und verlängerte diese dreimal bis aktuell Januar 2020.
Wie immer bei solchen Verfahren in Europa, den USA oder Kanada beriefen sich die spanischen Regierungsexperten vor allem auf Studien, die Hersteller des Pestizids in Auftrag gegeben und für die Behörden zusammengefasst hatten.
Unliebsame Ergebnisse weggelassen
Offenbar hatte sich die Behörde nur auf den Ergebnisbericht des Herstellers verlassen. Wissenschaftler um den Chemiker Axel Mie von der schwedischen Medizin-Universität Karolinska-Institut dagegen werteten die Rohdaten, also zum Beispiel die Gehirngewichte, selbst aus. Im vergangenen Jahr veröffentlichten sie ihr Fazit: Die Kleinhirne von Jungratten waren kleiner, selbst wenn ihre Mütter nur sehr geringen Chlorpyrifos-Mengen ausgesetzt waren.
Dies habe die Versuchszusammenfassung schlichtweg nicht erwähnt, berichteten die Forscher in der Fachzeitschrift Environmental Health. Der Hersteller habe „irreführende“ Angaben gemacht. Die spanische Behörde hat das nicht gemerkt. Das zuständige Gesundheitsministerium in Madrid antwortete bis Redaktionsschluss nicht auf die Frage der taz, welche Konsequenzen es aus dem Fall zieht.
Der US-Agrarchemiekonzern Corteva, in dem der Chlorpyrifos-Hersteller Dow nach einer Fusion aufgegangen ist, bedauerte die Entscheidung der EU in einer Stellungnahme für die taz. Er kritisierte, die Einschätzungen der EU-Lebensmittelbehörde „stimmen nicht mit den Schlussfolgerungen anderer wichtiger Regulierungsbehörden überein“. Das Unternehmen ergänzte: „Kein Wirkstoff wurde gründlicher erforscht als Chlorpyrifos.“ Genau jenes Argument hatten Verteidiger des Unkrautvernichters Glyphosat für ihr Produkt benutzt – was die Frage aufwirft, welches Pestizid denn nun wirklich am besten geprüft wurde.
„Wir begrüßen die Entscheidung der EU-Kommission sehr“, teilte Martin Häusling mit, Koordinator der Grünen im Agrarausschuss des EU-Parlaments. Allerdings komme das Verbot „15 Jahre zu spät“. „Chlorpyrifos hätte niemals zugelassen werden dürfen“, sagte der Grünen-Bundestagsabgeordnete Harald Ebner. Die spanische Behörde habe die Studien-Zusammenfassung kritiklos übernommen.
Grüne fordern Reform der Pestizidzulassung
Ebner verlangte, das Zulassungssystem zu reformieren. „Es kann nicht sein, dass der Hersteller selbst das Studiendesign erarbeitet, dann bestimmt, wer die Studie durchführt und schließlich auch noch selbst deren Ergebnis interpretiert und als direkte Textvorlage für den Behördenbericht übermittelt“, so der Grüne. „Es müsste eine unabhängige Stelle geben, die die Studien vergibt, finanziert über Gebühren.“
Der Grüne forderte, dass Deutschland sich nun auch „für ein weltweites Ende des gefährlichen Nervengifts“ einsetzt. „Chlorpyrifos gehört schleunigst auf die,POP-Liste' der Stockholm Convention mit weltweit geächteten Chemikalien.“ Die Bundesregierung müsse dafür sorgen, dass die EU Chlorpyrifos als Kandidat für die POP-Liste vorschlägt. Das Nervengift sei sogar schon im arktischen Eis nachgewiesen worden, weitab aller Einsatzorte. „Das belegt, dass Chlorpyrifos sich langfristig in der Umwelt anreichert.“ Bundesagrarministerin Julia Klöckner hatte sich nach monatelangem Zögern hinter ein Verbot der beiden Pestizidwirkstoffe gestellt.
In Deutschland darf Chlorpyrifos anders als in Spanien, Polen und 18 weiteren EU-Ländern seit 2015 nicht mehr gespritzt werden. Laut Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit wurde es aber beispielsweise 2017 vor allem in importierten Orangen, Mandarinen sowie Grapefruits gefunden. Treffer gab es auch bei Äpfeln, Spargel und Tafelweintrauben. Seit den 1960er Jahren töten Bauern in vielen Staaten mit dem Wirkstoff Schildläuse, Raupen oder andere Schädlinge.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind