Absturz aus der Champions League: Niedergang einer Fußballhauptstadt
Olympique Marseille gewann 1993 das erste Finale der Champions League. Doch der Klub hat den Anschluss an die nationale Spitze verloren.
Wenn am Samstag der FC Chelsea und Manchester City in Porto den 29. Champions-League-Titel ausspielen, bleibt den Marseillais wie Pascal nur noch die Erinnerung an diese längst vergangene Glanzzeit ihres Vereins, die 1993 im Olympiastadion von München ihren Höhepunkt erreichte. „Es kann nicht sein, dass Marseille nicht jedes Jahr um die Champions-League-Plätze mitspielt“, schrieb der Vereinspräsident von 1993, Jean-Pierre Bernès, kürzlich im Fachmagazin France Football. Schließlich sei Marseille mit all der Leidenschaft für den Klub die Hauptstadt des französischen Fußballs.
Spätestens in der Saison 2020/21 dürfte allerdings selbst den optimistischsten OM-Anhängern bewusst sein, dass ihr Verein nicht mehr zu den Großen Europas zählt. Erreichte OM 2018 noch das Finale der zweitklassigen Europa League, schied der Klub in dieser Saison mit drei Punkten aus neun Spielen sang- und klanglos aus der Champions League aus. Schlimmer noch: selbst auf nationaler Ebene scheint der Meister von 2010 den Anschluss verloren zu haben. Im Februar im Sechzehntel-Finale des französischen Pokals dem Viertligisten Canet Roussillon unterlegen, gelingt der Mannschaft erst am letzten Spieltag der Saison die Qualifikation für die Europa League.
Diesen letzten Spieltag verfolgt die Ultra-Gruppierung „South Winners 1987“ trotz Ausgangssperre in ihren Räumlichkeiten im dritten Marseiller Arrondissement – einem Viertel, in dem 55 Prozent der Einwohner unter der Armutsgrenze leben. „Diese Saison ist für uns doch gelaufen. Hoffentlich wird Monaco Meister, der Süden muss vor Paris stehen!“ rechtfertigt Rachid Zeroual, Vize-Präsident der South Winners, warum die Konferenz und nicht das Spiel von OM geschaut wird.
Ob die Saison anders verlaufen wäre, wenn die Mannschaft auf die Unterstützung seiner Anhänger hätte zählen können? Womöglich. Als feststand, dass bis zum Ende der Saison keine Zuschauer in den Stadien zugelassen sein würden, kommentierte die Regionalzeitung La Provence sarkastisch, man könne die Saison sofort abbrechen.
Dass sie keinen Zugang zu ihrer Coquille, wie das Stade Vélodrome mit seinem muschelförmigen Dach genannt wird, hatten, hinderte die Marseiller Anhänger nicht daran, sich für ihren Verein einzusetzen. Ein Verein, der nicht mehr ihrer ist. Seit 2017 ist der US-Amerikaner Frank McCourt Mehrheitseigner des Klubs. Dieser setzte im gleichen Jahr den Geschäftsmann Jacques-Henri Eyraud als Präsidenten ein.
Zerrüttetes Verhältnis zu den Fans
Spätestens seit der Verein auf Drängen von Eyraud 2018 der Ultra-Gruppe „Yankees“ das Dauerkartenkontingent entzog, gilt das Verhältnis zwischen Anhängern und Klub als zerrüttet. Die Fans machen Eyraud persönlich für den schleichenden Niedergang von OM verantwortlich, der dazu führte, dass neben Paris Saint-Germain auch die Konkurrenten aus Lyon, dem neuen Meister Lille und Monaco nicht nur tabellarisch sondern auch finanziell enteilt sind.
Dem Pariser Eyraud wird vorgeworfen, die Marseiller Identität und Mentalität nie verstanden zu haben. Im Gegenteil, als dieser behauptete, es bräuchte weniger Marseillais im Organigramm des Vereins, um diesen international wettbewerbsfähig zu machen, hielt es die stolzen Marseiller nicht mehr auf ihren Sofas vor dem Bildschirm.
In der ganzen Stadt waren über Wochen hinweg Banner zu sehen mit Aufschriften wie: „Eyraud: In Marseille muss man sich den Respekt verdienen!“. Darüber hinaus riefen die Fans zum Boykott der Social-Media-Kanäle des Klubs und des Hauptsponsors „Uber Eats“ auf. Am 30. Januar gipfelte der Protest in einem gewalttätigen Angriff von etwa 300 bis 400 Ultras auf das Trainingszentrum des Klubs, woraufhin das Liga-Spiel gegen Rennes abgesagt werden musste.
Eine Stadt steht auf
Der Generalsekretär der South Winners, Hamza Baggour, war an diesem Sturm auf das Trainingszentrum beteiligt. Und das nicht ohne Konsequenzen: 10 Monate Haftstrafe auf Bewährung hätten sie ihm aufgebrummt. Doch das sei es ihm wert gewesen, meint er mit einem stolzen Lächeln: „Es war entweder Eyraud oder wir, die ganze Stadt stand hinter uns, sogar der Bürgermeister. Gibt es eine andere Stadt, die gemeinsam den Präsidenten rauswirft?“ Und tatsächlich: kurz nach dem Angriff stellte sich auch Bürgermeister Benoît Payan auf die Seite der friedlichen Anhänger, indem er twitterte: „Die Fans sind die Seele des Klubs“ und die Direktion aufforderte, die Wogen zu glätten.
Nach einer Serie von fünf sieglosen Spielen reichte überdies der portugiesische Cheftrainer André Villas-Boas seinen Rücktritt ein. Unter diesem immensen Druck sah sich der Eigentümer McCourt im Februar gezwungen, den Präsidenten Eyraud durch den erst 34-jährigen Spanier Pablo Longoria, der immerhin als ausgewiesener Kenner des Transfermarkts gilt, zu ersetzen. Mit der Installation des Argentiniers Jorge Sampaoli als neuen Cheftrainer im März erhoffte sich die Klubführung, neues Feuer innerhalb der Mannschaft zu entfachen, die im Gegensatz zum Vereinsmotto „Droit au but“ (Direkt aufs Tor) oft träge und ängstlich agierte.
Ob es ihm und der Mannschaft gelingt, sich in der nächsten Saison wieder in die Herzen der Fans zu spielen? Ganz unwahrscheinlich ist das nicht. „Sampaoli ist verrückt, so wie wir, und Longoria ist ein connaisseur du ballon (Ballkenner) im Gegensatz zu Eyraud, der war Disneyland“ behauptet Rachid. Im persönlichen Gespräch habe er, der einflussreiche Fan-Vertreter, Longoria „verklickert, dass man, um OM zu führen, Ahnung vom Fußball haben, die richtigen Spieler holen muss, sonst bist du schnell wieder weg.“
Rachid muss wissen, wovon er spricht, schließlich war er 1993 in München dabei: „Richtige Spieler haben wir damals noch angefeuert, wie Rudi Völler, den Fuchs im Strafraum.“
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