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Abschied von Christian SemlerDie Freude, ihn gekannt zu haben

Er sprach über bosnische Musik, guckte die Tour de France, schrieb über Kartografie – Christian Semler war ein Schatz an Wissen.

So bleibt er uns in Erinnerung. Bild: Martin Brockhoff

Christian Semler war egal, dass er zu spät zur Redaktionskonferenz kam. Dass die wichtigsten Themen da oft schon besprochen waren. Er stellte seine Tasche ab, wartete auf die Viertelsekunde, da das Konferenz-Stakkato einmal abbrach, und begann: „Sollte man nicht noch einmal grundsätzlich bedenken …“

Und wie recht er hatte. Wie unendlich viel er wusste. Wie genau er war. Warum sprachen die Lateinamerikaleute immer von der „herrschenden Oligarchie“? „Oligarchie ist ’ne Herrschaftsform“, sagte er dann stirnrunzelnd. Semlerpedia: ein Schatz, ein Strom von Anekdoten, Analysen, zu jedem Thema mindestens ein Titel des dazugehörigen Standardwerks. Es sprudelte aus ihm heraus, sobald jemand den Blick vom Monitor nahm. Sein Zeitrhythmus war nicht der Rhythmus der Redaktion. Doch alles, was er sagte und schrieb, war unersetzlich, kaum dass es im Raum oder auf Papier stand.

Nichts entging seiner warmherzigen Neugier. Mit jeder Kollegin, jedem Kollegen verband er etwas. Zur gebürtigen Ostlerin, von der er wusste – er merkte sich so etwas immer –, dass sie die Russischschule besucht hatte, brachte er kopierte Briefe russischer Soldaten aus dem Jahr 1945. Ob sie ihm helfen könne, die krakeligen kyrillischen Buchstaben zu entziffern und die Berichte von Frontverläufen und Essensrationen zu übersetzen?

Er ließ sich nicht anmerken, dass die Russischkenntnisse der Angesprochenen offensichtlich eingetrocknet waren. Wahrscheinlich konnte er viel besser Russisch. Aber er suchte jemanden, mit dem er an diesem Sprachfeuerchen sitzen konnte.

Traf er die neue Kollegin mit Jugoslawien-Expertise, wollte er über die musikalische Szene des Landes reden. Doch er sagte nicht einfach: „Die bosnische Sevdalinka ist interessant“, sondern: „Diese bastardisierten Akkorde muss man richtig studieren.“

Ironie statt Angst

Gab es ein Fest, tanzte Christian, er tanzte Regale um, die von Auslandsredakteurinnen mühsam gehalten wurden, er tanzte 30 Jahre jüngere Kollegen an die Wand. Er liebte Sport. Wenn sich zur Tour de France – Bergankunft in den Alpen, live – die Tour-Begeisterten zu Produktionszeiten in den dritten Stock des taz-Neubaus zum Fernseher schlichen, stand Christian schon da und referierte. Ein paar Hinweise zur Geschichte der Tour, zu den gezeigten Orten in Frankreich, zu den neuesten Querelen der Regierungspartei. Merkwürdig – das Archiv spuckt nur drei Sporttexte mit seinem Namen aus. Genügte sein Wissen seinen eigenen Ansprüchen nicht?

Hindernisse gab es für ihn nicht. Er sah schlecht, wen kümmerte das, ihn nicht. Dicht hing er mit dem Kopf über der Tastatur, auf die er in rasendem Zweifingersystem einhieb. Wer ihn außerhalb der Redaktion erlebt hatte, wusste, dass bei ihm Ironie wohnte, wo bei anderen die Angst sitzt. Kollegen kamen von der gemeinsamen Segeltour auf der Ostsee zurück: Bei Windstärke 7 habe sich Christian eine Selbstgedrehte nach der anderen angezündet, nur dass der Wind seine Kippen schneller rauchte als er selbst. Während andere Leute ans Überleben dachten, interessierte er sich für die beste Rauchtechnik bei Starkwind: Gelassenheit in Vollendung.

Sein Lachen war weich und dunkel und trotzdem unüberhörbar. Irgendwie französisch, wie eine Kollegin meinte: Vermutlich das Ergebnis jahrzehntelangen Trainings, nämlich zu lachen, ohne die selbst gedrehte Zigarette aus dem Mund fallen zu lassen. Das Rauchen – viele Leute werden für alle Zeiten behaupten, ihn nie ohne Zigarette gesehen zu haben. Aber sie täuschen sich, denn an dieser Stelle hatte der Arzt schon vor geraumer Zeit durchgegriffen.

Vielleicht war Gesundheit dann doch das einzige Thema, in das er sich nicht vertiefte. Ernährungstipps brauchte er auch nicht. In der Rudi-Dutschke-Straße suchte er regelmäßig die „asiatische Schnellfresse“ auf, wie er sie nannte. Vorher guckte er aber immer erst im Internetlexikon nach, was „gebratene Ente“ oder „Bambussprossen“ auf Chinesisch heißt, um landsmännisch bestellen zu können. Stolz berichtete er nachher, verstanden worden zu sein.

Seine Selbstironie kam daher, dass er aus sich selbst gelernt hatte. Am „Schwarzbuch des Kommunismus“ möge er sich abarbeiten – wer, wenn nicht er, könne Auskunft über Heilsversprechen und Opferbilanzen geben? Heraus kam 1998 sein glänzender Text im Wochenendmagazin: „Das Elend linker Immunisierungsversuche“. Kein Text vor der Veröffentlichung war so umzankt zwischen Autor und Ressort. Doch räumte er ein: Kommunismus sei eine schöne Idee, und am Ende müsse man immer in Rechnung stellen, dass einer wie Mao oder Pol Pot aus der Idee hervorging.

Dogmen überwunden

Wer sich schwer vorstellen konnte, dass Christian als Chef der maoistischen KPD-AO einmal als autoritär und schneidend galt, dem erzählte er: „Ich bin froh, dass wir nie die Macht in den Händen hatten – es wäre schlimm ausgegangen.“ Doch hatte er ja früher als so viele andere das Ausmaß der Veränderungen in den 1980er Jahren im Osten Europas begriffen. Als er 1989 zur taz kam, brachte er Kontakte zu den Widerständlern Osteuropas mit; er war erfüllt von den Diskussionen mit ihnen über den Abschied vom Stalinismus. Er hatte seine Dogmen überwunden – und reagierte umso empfindlicher, wenn andere welche behaupteten.

Vehement verteidigte er den jungen Kollegen, der aus der Lokal- in die Meinungsredaktion wechseln wollte und als DDR-belastet galt: „Wenn ihr einem ehemaligen Maoistenführer glaubt, dass er sich geändert hat, müsst ihr das auch einem ehemaligen SED-Mitglied zugestehen.“ Es war das bessere Argument.

Das war das Einzige, was für ihn zählte: das erklärende Argument, niemals die Hierarchie, die Rolle. Er fand Erklärungen und Argumente überall. Komplett gefangen nehmen ließ er sich etwa von der Kartografie. Für ihn waren solche Werke Geschichtsbücher ohne Worte und Kunstwerke zugleich. Noch vor wenigen Wochen begeisterte ihn eine „Weltkarte der Surrealisten“ aus einer belgischen Kulturzeitschrift von 1929.

Es war eine Karte, die für ihn gemacht schien – voller politischer Anspielungen, ironischer Spielereien, kunstvoller Raffinesse. Er schrieb einen wunderbaren Essay darüber, in dem er die Bedeutung der Karte zusammenfasste: „Leben und Tod, das Reale und das Imaginäre, hoch und niedrig sollten nicht mehr als sich ausschließende Gegensätze begriffen werden. Ihre Kritik der Vernunft war gemeint als Kritik an den konzeptionellen Kategorien, die stets zum Vorteil der herrschenden Klasse funktionieren. Denn für die Bourgeoisie ist es überlebenswichtig, gesellschaftliche Verhältnisse als quasi unumstößliche Naturgegebenheiten darzustellen.“

Kästchen mit Erinnerungsbildern

Der taz wird solch scharfes analytisches Denken unendlich fehlen. „Wenn ein alter Mensch stirbt, geht eine Bibliothek in Flammen auf“, so ein afrikanisches Sprichwort. Viele seiner Bücher stehen noch ganz oben im Haus, sechster Stock. Im Regal ganz links findet sich auch ein sehr fein gearbeitetes Kästchen mit Erinnerungsbildern, darin auch ein Zeugnis über die „Zusammenkunft des Genossen Li Hsiän-niän mit der Delegation der Kommunistischen Partei Deutschlands“. Li war damals Mitglied des Politbüros der ZK der KP Chinas und Vizepremier des Staatsrats, hätte Christian sofort gesagt, hätte er jemand mit dem Kästchen in der Hand vorm Regal angetroffen.

Wie vieles wir ihm noch immer sagen, was wir ihn noch immer fragen wollten: „Christian, ich habe eine weitere Stelle bei Walter Benjamin gefunden, wo er Franz Hessel kommentiert“ – „Christian, der Stand zur Halbzeit in dem Spiel 1974 war aber ein ganz anderer“ – „Christian, warum hat der Supreme Court das damals so und nicht anders entschieden?“

Was wir haben: die Freude, ihn gekannt zu haben.

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16 Kommentare

 / 
  • A
    Alex

    Je mehr ich hier über Semler lese, desto mehr denke ich: Ich freue mich über die TAZ-Biographie über ihn.

    Es wäre eine interessante Entwicklungsgeschichte der bundesdeutschen Linken, mit Irrungen und Wirrungen und Lehren daraus.

    Ich hoffe, ihr setzt euch daran!

  • C
    claudiland

    Ja, das war ein wundervoller Mensch - sogar zu KPD (AO)-Zeiten - freundlch, gebildet, so überzeugend, dass sogar meine Mutter, die ich einmal zu einer Parteiveranstaltung geschleift habe, völlig begeistert von ihm war - trotz seiner damals noch recht dogmatischen Ansichten - oder Äußerungen - auch er war gefangen in der Mao-Doktrin.

    ich bin sehr traurig, dass er so früh gestorben ist, hätte gerne noch einmal mit ihm geredet, Erfahrungen ausgetauscht. Menschen wie er sind das Salz der Erde.

  • S
    Semler-Fan

    Christian Semler habe ich immer gerne gelesen. Am Ende meiner taz-Abo-Genosse-Zeit waren er und Zumach noch die einzigen Halteseile .... aber nachdem Sudel-Kai Genosse wurde, habe ich mich trotz ihm verabschiedet....

    Ruhe in Frieden ! H.

  • T
    tazitus

    Danke für die Texte von und zu Christian Semler.

     

    "Ich würde alles wieder so machen (entscheiden)."

    (Ole von Beust zur Elbphilharmonie)

    "Ich will so bleiben wie ich bin."

    (der neue Steuermann der Piraten in Nds., Kevin Price)

     

    Schade, dass die beiden und so viele andere Menschen nicht wissen, dass sie sich weiterentwickeln könnten,

    dass sie besser werden könnten. Den Namen Christian Semler haben die vermutlich noch nie gehört.

  • JB
    Jürgen Buxbaum

    Es ist mir als hätte ich einen engen Freund verloren

     

    Ich habe Christian Semler nur einmal persönlich getroffen, irgendwann in den 70er Jahren. Mit 18 habe ich, nach sorgfältiger Abwägung aller politischen Alternativen, mich ganz bewusst der KPD angeschlossen, zunächst politisch, dann organisatorisch. Und vor 33 Jahren habe ich mich ebenso bewusst an ihrer Auflösung beteiligt. Aus den gleichen Gründen, aus denen ich Kommunist war - Freiheit, Gerechtigkeit, Mitmenschlichkeit - bin ich keiner mehr. Wie bei ihm hat die persönliche Erfahrung mit dem 'Sozialismus' im Osten dabei eine große Rolle gespielt. Was ich in den letzten Jahrzehnten von und über ihn gelesen habe, hat mich immer emotional und intellektuell berührt. Nie würde ich mich mit ihm vergleichen wollen, was sein Wissen und seine geistige Tiefe betrifft, aber was seine Wandlung seit den 70ern und seine ganze Haltung als Mensch und Linker betrifft, da scheint es mir, ich hätte einen Bruder im Geiste verloren. So bin ich traurig über den Tod eines Menschen, den ich nur einmal gesehen habe und von dem ich doch glaube, dass er die Welt reicher gemacht hat. Es wird etwas von ihm zurückbleiben, in uns.

  • J
    JGonz

    Das muss ein wundervoller Mensch gewesen sein! Wieso nur sind die Erwähnungen seines Schaffens nicht verlinkt?

     

    Abgesehen davon, einer der besten Nachrufe, die ich je gelesen habe. Kudos!

     

    Viel Spaß!

  • T
    Thomas_U

    @hodann:

     

    TAZ-Magazin vom 30.05.1998

     

    Das Elend linker Immunisierungsversuche

     

    http://mitglied.multimania.de/sarkasmus/Schwarzbuch/f153.htm

  • RF
    Ruprecht Frieling

    Wundervoll weich geschriebener Nachruf. Christian hätte seine Freunde daran gehabt.

  • CA
    Christoph Assheuer

    An Christian Semlers Artikel (siehe: "Wenn wir einmal alt sind") konnte man sich hervorragend orientieren, zumindest in den letzten dreißig Jahren.

    Seine detaillierten Analysen waren ein guter Ausgangspunkt, um in ein unbekanntes Thema einzusteigen und die eigenen Fragen zu stellen. Beim Schreiben habe ich ihn mir immer leise schmunzelnd vorgestellt.

     

    Man könnte ihn ehren, indem man einen Sammelband seiner "wichtigsten" Artikel ins Netz stellt oder als Buch herausbringt(oder beides).

  • A
    alcibiades

    Höre gerade "die interessante bosnische Sevdalinka“, die mir bis dato noch nichts sagte. Wirklich interessant. RIP Semler. Wird fehlen.

  • H
    hodann

    Euer Nachruf hat mich sehr neugierig auf Christians Artikel: "Das Elend linker Immunisierungsversuche" gemacht.Könnt ihr diesen Artikel noch einmal veröffentlichen bzw. einen link zum downloaden bereitstellen ??

     

    Danke

  • C
    Chris

    Was bitte ist denn eine "Ostlerin"? Außer ein wirklich beleidigendes Wort - klingt irgendwie wie "Negerin" für mich. Und, dass die Russischkenntnisse der Dame "eingetrocknet" waren, lag sicher daran, dass sie - wie so gut wie jeder, der im Osten zur Schule ging - den Russischunterricht gehasst und alles ganz schnell vergessen hat. Jemand der was von "Ostlern" versteht hätte das gewusst und diese Anekdote anders erzählt. Herr Semler sicher auch ... rest in peace

  • S
    Stieglitz

    Bei den vielen freundlichen Worten gehe ich mal davon aus, dass H. Semmler gestorben ist?

     

    Wann, wo und woran?

  • D
    David

    Ein schöner Artikel!

  • J
    JoHnny

    ...in memoriam ...

  • PA
    Paul aus Prag

    Ich (ein Tscheche) traf Herrn Semler und sprach mit ihm nur einmal in meinem Leben. Er schlepte damals eine Tasche voll von Büchern. Ich fragte ihn, was für Bücher es sindt. Er legte sie auf den Tisch. Es waren (vielleicht zuffälig) alles Werke über die osteuropäische Kultur und Literatur. Ich staunte bloß. So was habe ich bei einem "westlichen" Journalisten und Intellektuellen noch nie gesehen. Und höchstwahrscheinlich nie sehen werde. Das ist meine kurze Erinnerung an einen unglaublich vielseitigen deutschen Kollegen.