Abgeordnetenhauswahl am 26. September: Wenn Berlin ganz grün wäre …
Die grüne Spitzenkandidatin Bettina Jarasch stellt vor dem Roten Rathaus ihr Kurz-Regierungsprogramm mit zehn Punkten vor.
![Das Foto zeigt die Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch. Das Foto zeigt die Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch.](https://taz.de/picture/5059578/14/28217557-1.jpeg)
Der Tag hatte gar nicht schlecht begonnen für Jarasch, jedenfalls wettermäßig. Das Regierungsprogramm, das nun etwas weiter weggerückt ist, stellen die Grünen nämlich open air vor, genau vor dem Haus, von dem aus Jarasch es gerne umsetzen würde – grüne Banner, Plakate und eine gleichfarbige Stellwand stehen darum am Mittwochmorgen vor dem Backstein der Senatskanzlei im Roten Rathaus.
Der gerade so häufige Regen bleibt aus, im Hintergrund wehen Flaggen, die gedachte Szenerie für das halbe Dutzend anwesender Fotografen klappt. Noch-Regierungschef Michael Müller hätte sich das sogar aus seinem Dienstzimmer ansehen können. Hätte. Denn wie eine Nachfrage bei Vize-Senatssprecher Julian Mieth ergibt, ist Müller gerade gar nicht im Rathaus. Ihn braucht Jarasch auch gar nicht zu vertreiben: Müller geht von allein und will Bundestagsabgeordneter werden – und gerne auch Minister.
Franziska Giffey, seine Nachfolgerin an der SPD-Spitze, war schon Ministerin und geht nun den umgekehrten Weg, der sie in ebenjenes Dienstzimmer bringen soll.
In der jüngsten Wahlumfrage des Instituts INSA liegen die Grünen in Berlin erstmals seit Juli 2018 hinter den Sozialdemokraten. Aktuell kommt die SPD auf 22 Prozent vor den Grünen mit 18 und der CDU mit 16 Prozent. Stärker als die Grünen war seit Ende 2018 kurzzeitig nur die CDU im Dezember 2020. In der vorigen INSA-Umfrage Ende Juni war es genau umgekehrt: Da lagen die Grünen mit 22 vor der SPD mit 18. Die Linkspartei erreicht aktuell 15 Prozent (vorher 13 Prozent) und ist damit so stark wie noch in keiner anderen Umfrage in diesem Jahr. Die FDP, zuvor bei 10 Prozent kommt auf 9, die AfD bleibt bei zwölf Prozent. (sta)
Am Wochenende hat sie mehr als deutlich gemacht, dass sie Müllers rot-rot-grüne Koalition eher nicht fortsetzen wird: „Rote Linien“ hat sie gezogen, ein seither viel zitierter Begriff. Die „rote Linie“ sind für sie Enteignungen, wie sie der am Tag der Wahl gleichfalls anstehende Volksentscheid fordert. Kommt für Giffey als Koalitionspartner nicht infrage. Die Linkspartei wäre damit raus, sie hat Enteignungen zu ihrem zentralen Wahlkampfthema gemacht. Für die Grünen hingegen gilt das nicht: Dort hat zwar Jarasch angekündigt, dass sie persönlich mit Ja stimmen will, hat aber zugleich vor vier Wochen mit ihrem Mietenschutzschirm eine Alternative zu Enteignungen vorgeschlagen.
Die grüne Spitzenkandidatin plädiert vor dem Roten Rathaus weiter dafür, an dem jetzigen Bündnis festzuhalten, bloß unter grüner Führung. „R2G hat dieser Stadt gutgetan, die Koalition passt zu Berlin, anders als eine sogenannte Deutschlandkoalition aus SPD, CDU und FDP“, sagte sie und zieht eine klare Grenze zu Giffey. Zur Wahl stehen am 26. September aus Jaraschs Sicht einerseits dringend nötige Veränderungen, andererseits ein „Alles bleibt, wie es ist“. Giffeys „rote Linien“ empfindet sie als befremdlich – „das ist schlechter Stil vor der Wahl“, sagt sie der taz. Ihr Kurz-Regierungsprogramm steht nur eine knappe Stunde vor dem Roten Rathaus, bevor die Stellwand wieder auf einem Anhänger landet. Zehn Punkte sieht es vor, aufgeschrieben auf einer bunten Berlinkarte mit viel Wasser und roten Pollern für geschützte Radwege. Der besagte Mietenschutzschirm taucht gleich als zweitwichtigster Punkt auf – 50 Prozent der Wohnungen will Jarasch in gemeinwohlorientierte Hände bringen (die auch privaten Eigentümer gehören können).
Einen „Hauptstadt-Takt“ verspricht sie zudem, bei dem es in dicht besiedelten Gebieten alle fünf Minuten ein Bus- oder Bahn-Angebot geben soll, in der City genauso wie in den Außenbezirken. In ruhigeren Gegenden soll das alle zehn Minuten der Fall sein.
Das soll auch die Basis für Punkt vier sein, autofreie Kieze in ganz Berlin. Auch Schulen, Vielfältigkeit und Digitalisierung kommen vor.
Erst als zehnter und letzter Punkt – als ob die Grünen die ihnen wiederholt unterstellte Wirtschaftsferne bestätigen wollen – folgt das Thema nachhaltige Wirtschaft. Klimaschutz sei Wirtschaftspolitik, „und die Wirtschaft will das“, sagt Jarasch. Ihr Problem: Die Wählerschaft will hingegen aktuell im Roten Rathaus nur zu 18 Prozent die Grünen, die Ende April beim selben Umfrageinstitut noch bei 25 Prozent lagen, bei einem anderen sogar bei 27 Prozent. Bleibt es bei diesem Trend, wird in jenem Dienstzimmer im ersten Stock Franziska Giffey einziehen, mit einem Regierungsprogramm, bei dem der oberste Punkt nicht Klimaneutralität ist.
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