ABGAS Alle reden über VW, aber hinter „Dieselgate“ gibt es noch einen anderen Skandal: Seit Jahren ist die Luft in Deutschland giftiger als erlaubt. Weil die Bundesregierung nichts dagegen unternimmt, ist die EU sauer: Europameister der Stinker
von BERNHARD PÖTTER
Sie hat acht Fahrbahnen, breite grüne Mittelstreifen, vier Baumreihen und sie hält einen zweifelhaften Rekord: Die Landshuter Allee im Westen von München ist die dreckigste Straße Deutschlands. Seit Jahren liegen hier zwischen vierstöckigen Altbauten und Bürohäusern die Schadstoffe in der Luft weit über den Grenzwerten: 85 Mikrogramm Stickstoffdioxid statt der gerade noch erlaubten 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft zeigen die Messungen im Jahresdurchschnitt. Und damit ist die Rennstrecke zwischen Olympiagelände und Donnersbergerbrücke bundesweit keine Ausnahme: Am Clevischen Ring in Köln, der Hohenheimer Straße oder dem Neckartor in Stuttgart, am Theodor-Heuss-Ring in Kiel und anderswo herrscht ähnlich dreckige Luft.
Diese bislang unveröffentlichten Daten des Umweltbundesamts zeigen: Flächendeckend und andauernd ist im Öko-Vorzeigeland Deutschland die Atemluft schmutziger als erlaubt. Vor allem Kinder, Alte und Kranke an den großen Ausfallstraßen der Städte leiden an den giftigen Dämpfen, die ihre Lebenszeit verkürzen und zu Tausenden von vorzeitigen Todesfällen führen. Und die Belastung mit den ätzenden Schadstoffen liegt inzwischen so weit und andauernd über internationalen Standards, dass die EU der Bundesrepublik in harschem Ton jahrelanges Nichtstun vorwirft. Wurde in den letzten Jahren vor allem über den Feinstaub aus Motoren, Heizungen und Staub geklagt, richtet sich die Aufmerksamkeit jetzt auf die nächste Gruppe von Schadstoffen: Stickoxide, kurz NOx.
Der Neun-Punkte-Plan der Ministerin
Das Problem ist schon lange bekannt. Aber seit VW zugegeben hat, seine Werte bei diesen giftigen Abgasen zu schönen, rückt das Reizgas aus dem Auspuff ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die EU-Kommission schlug zu Beginn der Woche schärfere Kontrollen der Autohersteller vor. Bundesumweltministerin Barbara Hendricks forderte in „Neun Punkten für bessere Luft in Städten“ unter anderem neue europaweite Tests für Diesel-Pkws, die sich mehr an der Realität orientieren und den Diesel „wirklich sauberer machen“. Außerdem sollen Kommunen einfacher als bisher Fahrverbote erlassen können, wenn der Verkehr zum Himmel stinkt – ob das durchsetzbar ist, bleibt die Frage. Und am Ende der Woche mussten die Ministerien für Wirtschaft und für Verkehr der EU-Kommission zurückmelden, was sie von den EU-Plänen zu schärferen Tests halten.
Aber der Schutz der Bevölkerung wird ignoriert. Der 40-Mikrogramm-Grenzwert wird in insgesamt 29 Gebieten in Deutschland überschritten (siehe Grafik) – und zwar seit Jahren und ohne Aussicht auf baldige Abhilfe. Deshalb leuchten auch im „Aufforderungsschreiben Vertragsverletzung Nr. 2015/2073“ der EU-Kommission an die Bundesregierung, das der taz vorliegt, die Werte seit 2010 in alarmierendem Rot.
An 59 der 407 Messplätze in Deutschland liegen die Werte zu hoch, vor allem in Großstädten, wo extrem viele Menschen betroffen sind. Und das Bundesumweltministerium räumt auf eine kleine Anfrage der Grünen ein, schuld daran sei weniger der aktuelle VW-Skandal, sondern das alltägliche Schönrechnen der dreckigen Dieselmaschinen. Die Überschreitungen, schreibt die Parlamentarische Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter, seien „wesentlich darauf zurückzuführen, dass die NOx-Emissionen von Diesel-Pkw im realen Fahrbetrieb deutlich höher liegen, als mit der kontinuierlichen Fortschreibung der EU-Abgasgrenzwerte auf Ebene der EU zu erwarten war“. Für die grüne Umweltpolitikerin Bärbel Höhn heißt das: „Besonders die Anwohner an großen innerstädtischen Straßen und Asthmatiker zahlen die Zeche, dass die Bundesregierung jahrelang bei den Betrügereien der Autohersteller weggeschaut hat.“
Tatsächlich machen die Schadstoffe aus Diesel-Pkws nur etwa ein Viertel der Gesamtbelastung mit Stickoxiden aus. Den Rest verursachen Lkws, Baumaschinen und andere Verbrennungsarten, die noch schwerer zu regulieren sind. Weil die Luftschadstoffe in den letzten Jahren zwar zurückgingen, aber immer noch weit über den akzeptierten europäischen Normen liegen, wurde es der EU-Kommission im Juni zu bunt. In dem EU Brandbrief heißt es, „dass die von Deutschland ergriffenen Maßnahmen zur Verbesserung der Luftqualität nicht wirksam und angemessen genug waren, um die Einhaltung der Richtlinie zu gewährleisten, und somit der Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt, die wichtigsten Ziele der Richtlinie, von Anfang an gefährdet war“. Deutschland habe zehn Jahre lang zu wenig gegen das Problem getan, obwohl es dazu rechtlich verpflichtet war.
Die Pläne für die Entlastung von Ballungsräumen wie Mannheim oder Nürnberg hält die EU-Kommission schlicht für unrealistisch. Und Umweltkommissar Karmenu Vella, der das Schreiben unterzeichnet hat, kann sich nicht verkneifen, die Deutschen darauf hinzuweisen, dass sie zwar jetzt lautstark neue und realistischere Testmethoden fordern, dass aber „in der Praxis die Standpunkte und Maßnahmen Deutschlands nicht immer dem erklärten Engagement entsprachen“ und Berlin oft Maßnahmen gebremst habe – ein Hinweis darauf, dass Deutschland in Brüssel immer an die Interessen der deutschen Autobauer denkt.
Für die Europäische Umweltagentur EEA ist das Mutterland der Energiewende sogar der Europameister der Stinker: Nur in Deutschland wurden nach dem Bericht „Luftverschmutzung in Europa“ von 2014 gleich bei drei von vier Schadstoffen die Grenzwerte gerissen: bei Stickoxiden, Ammoniak und flüchtigen organischen Verbindungen; nur Schwefeldioxid ist in Deutschland kein Problem. Von den 28 EU-Mitgliedern halten 10 einen oder mehrere Grenzwerte nicht ein bei diesen Stoffen, die „der menschlichen Gesundheit und der Umwelt schaden, die Atemwegserkrankungen oder die Versauerung der Böden verursachen und die Pflanzen schädigen“, heißt es von der EEA.
Erhöhte Sterblichkeit durch das Reizgas
Die toxischen „Noxe“ verpuffen nicht einfach, sie schädigen vor allem die Verwundbarsten wie Kinder und Alte, sagt Annette Peters, Direktorin des Zentrums für Epidemiologie II am Helmholtz-Zentrum München. An besonders belasteten Straßen „sehen wir erhöhte Sterblichkeit im Vergleich zu weniger belasteten Regionen im städtischen Umfeld“. Insgesamt verkürze eine hohe Belastung mit den Schadstoffen die Lebenserwartung.
In hohen Konzentrationen wirke Stickstoffdioxid wie ein Reizgas und könne die Lunge angreifen. „Wir sehen auch Schäden am Herz-Kreislauf-System und besondere Belastungen für Allergiker“, sagt Peters. Außerdem tragen Stickoxide zur Entstehung von Ozon bei und zur Bildung von Feinstaub, einem der großen Killer in der Atemluft. Jedes Jahr, schätzt das Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz, sterben allein an Feinstaub und Ozon zusätzlich 35.000 Menschen in Deutschland.
Solche konkreten Abschätzungen, „Health Impact Assessments“ genannt, gibt es bislang für Stickstoffdioxid nicht. Einerseits sind die chemischen Prozesse schwierig zu verstehen, sagen Experten, andererseits lag bisher die Aufmerksamkeit woanders. Der VW-Skandal ändert das jetzt. Das Umweltbundesamt hat gerade eine schon lange geplante Studie in Auftrag gegeben, um „umweltbedingte Krankheitslasten und Verkürzung der Lebenszeit durch NO2-Exposition“ zu ergründen. Erste Ergebnisse werden für den Herbst 2016 erwartet.
Der VW-Skandal hilft dabei den Behörden und Politikern auf die Sprünge. Das war schon mal so, und die Landshuter Allee spielte auch damals eine Hauptrolle: 2007 klagte der damalige bayerische Grünen-Chef Dieter Janecek als Anwohner der dreckigsten Straße Deutschland gegen die überhöhten Feinstaubwerte. Er bekam schließlich recht – und Deutschland führte Umweltzonen und Rußpartikelfilter ein.
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