9-Euro-Nachfolgeticket: Freie Fahrt für 29 Euro
Der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg nickt die Pläne des rot-grün-roten Senats ab. Das Ticket soll nur im Abo möglich sein und im Oktober starten.
Die Sitzung des VBB-Aufsichtsgremiums, in dem die Landesregierungen, Landkreise und Kommunen vertreten sind, war mit Spannung erwartet worden. Denn ohne dessen Zustimmung wäre nichts geworden aus den Plänen der rot-grün-roten Koalition – das Gremium hat auch bei rein Berliner Ticketfragen das letzte Wort. Führende Vertreter der Brandenburger Regierungsparteien SPD und CDU, aber auch Vertreter der Landkreise hatten sich brüskiert gegenüber dem gezeigt, was sie als Berliner Alleingang empfanden.
Bei ihnen galt es als voreilig und überstürzt, ein eigenes Ticket anzubieten, bevor ein bundesweit einheitlicher Fahrschein auf den Markt kommt. Den hat Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) für Anfang 2023 in Aussicht gestellt.
Am Ende war alles viel nüchterner als erwartet. Die Mitglieder des Aufsichtsrats gingen nicht etwa wortwörtlich in der VBB-Zentrale gegenüber vom Ostbahnhof in Klausur, um nach stundenlangen heftigen Beratungen – bildlich gesprochen – weißen Rauch als Zeichen einer Einigung aufsteigen zu lassen. Funktional per Videokonferenz winkte das Gremium durch, worauf sich der rot-grün-rote Senat zuvor geeinigt hatte.
Weil Berlin laut Senat ohne eine Abo-Gestaltung aus einem Rettungsschirm des Bundes für den Nahverkehr gefallen wäre, gibt es das neue Ticket weder einzeln monatsweise noch am Automaten zu kaufen. Wer es haben will, muss ein dauerhaftes Abonnement abschließen. Das soll sich nach Ablauf der drei Monate Ende Dezember kündigen lassen. Wer nicht kündigt, bleibt Abonnent und muss sich entscheiden zwischen dem bisher geltenden Umweltticket, das bei jährlicher Zahlweise 63,42 Euro kostet, und dem angestrebten bundesweit gültigen Ticket.
Landrat wollte erst Sitzung verhindern
So sah es eine Vorlage der Verwaltung von Senatorin Jarasch für den Hauptausschuss des Abgeordnetenhauses vor. Der hatte am Mittwoch, vorbehaltlich der VBB-Zustimmung, jene 105 Millionen freigegeben, die Einnahmeausfälle durch das Günstigticket wettmachen sollen.
Am frühen Mittwochmorgen hatte es so ausgesehen, als würde die Sondersitzung des Aufsichtsgremiums ausfallen. Denn der Landrat von Märkisch-Oderland, ein SPD-Mann, hatte Einspruch gegen eine Sitzung eingelegt. Regierungschefin Franziska Giffey hängte sich dem Vernehmen nach daraufhin ans Telefon und überzeugte ihren Parteifreund, sein Veto zurückzuziehen.
Entscheidend für die Zustimmung der Brandenburger war offenbar, dass sie sich an den entstehenden Kosten nicht beteiligen müssen – und nur der Brüskierung wegen das 29-Euro-Ticket aufzuhalten, war dann doch nicht angesagt. Das bedeutete jedoch nicht, dass die Brandenburger Politik sich nun für das Ticket begeistern würde.
Der CDU-Fraktionschef im Brandenburger Landtag, Jan Redmann, machte deutlich, dass man die Sache weiter kritisch sehe. „Wir halten das 29-Euro-Ticket für falsch“, sagt er im RBB-Inforadio. „Wir halten auch das Vorgehen Berlins zu diesem Zeitpunkt für falsch, weil sich ja gerade alle Bundesländer mit dem Bund darüber unterhalten, wie eine Nachfolgeregelung aussehen könnte.“ Erstmal müsse man den Menschen auf dem Land ein Angebot machen, sagte der CDU-Politiker. Aber wenn Berlin gerade zur Verfügung stehendes Geld „sofort als Wahlkampfgeschenk verfrühstücken möchte, dann wird am Ende Brandenburg das auch nicht verhindern“.
Giffey: 365-Euro-Ticket „langfristiges Ziel“
Giffey und Jarasch kommentierten die Zustimmung des VBB-Aufsichtrat in einer kurzen Stellungnahme vor dem Roten Rathaus. Giffey sieht durch das Ticket eine konkrete Entlastung von Hunderttausenden in Berlin. Sie deutete an, dass das jetzt beschlossene Ticket in ein seit Längerem von der SPD gefordertes 365-Euro-Ticket münden könnte: „Unser langfristiges Ziel bleibt ein dauerhaftes, gutes Angebot, mit dem Berlinerinnen und Berliner für nicht mehr als einen Euro am Tag unterwegs sein können.“
Jarasch räumte zwischenzeitliche Schwierigkeiten ein – „Das war keine einfache Geburt“. Aus ihrer Sicht hat das Ticket sowohl soziale wie verkehrspolitische Bedeutung, weil der Senat Mobilität ermögliche. Am Mittwoch im Hauptausschuss des Parlaments hatte Jarasch sinngemäß gesagt, dass das Ticket sich nur dann auf den Verkehr auswirke, wenn man es dauerhaft anbiete, akut aber für Entlastung im Portemonnaie sorge.
Die Linkspartei wiederholte nach der VBB-Sitzung ihre schon im Ausschuss erhobene Forderung, schnellstmöglich den Preis für das Sozialticket für Menschen mit sehr wenig Geld abzusenken. Das liegt mit 27,50 Euro jetzt nur noch knapp unter dem für alle zugänglichen 29-Euro-Ticket. Auch die FDP hatte vor diesem Hintergrund in Frage gestellt, dass es sich um eine zielgenaue Entlastung handelt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles