75 Jahre Grundgesetz: Grundsätze für eine Welt im Wandel
Seit 1949 versucht das Grundgesetz allgemeingültige Regeln für ein Zusammenleben zu formulieren. Eine Analyse der wichtigsten Kapitel.
D ie Welt war eine andere, als das Grundgesetz 1949 entstand. Der Zweite Weltkrieg und die faschistische Naziherrschaft waren gerade erst Geschichte geworden. Deutschland lag noch in Trümmern. Die Gesellschaft dachte sehr traditionell. Es folgten: das Wirtschaftswunder, die Einbindung in Europa und in die die Nato, eine gesellschaftliche Liberalisierung, starke Zuwanderung, das Internet und die Klimakrise. Sehr vieles hat sich seit 1949 sehr grundsätzlich verändert. Macht das Grundgesetz da noch die richtigen Vorgaben?
Eine Verfassung soll jene Grundregeln des Staates enthalten, die auch einen Regierungswechsel überdauern. Deshalb kann das Grundgesetz nur mit Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat geändert werden. Das heißt: Mehrheit und Opposition müssen sich einig sein, dass eine Änderung erforderlich ist. Seit 1949 ist dies 67-mal erfolgt.
Doch auch das Bundesverfassungsgericht kann das Grundgesetz modernisieren, indem es die oft vagen Normen neu interpretiert. Das ist kein Machtmissbrauch, sondern funktional. Schließlich stehen auch die mit Zweidrittelmehrheit gewählten Verfassungsrichter über dem politischen Alltagsgeschäft.
In der Praxis geht es drunter und drüber, wie ein Blick auf die Entwicklung in elf wichtigen Politikfeldern im Grundgesetz zeigt. Mal wird das Grundgesetz fortschrittlicher, mal wird es konservativer. Mal agiert der Bundestag, mal das Verfassungsgericht. Es ist alles im Fluss.
Datenschutz
1949 spielte die elektronische Datenverarbeitung noch keine Rolle, dementsprechend gab es im Grundgesetz auch keine Vorgaben zum Datenschutz. Ohne dass das Grundgesetz geändert wurde, hat das Bundesverfassungsgericht 1983 in seinem Urteil zur Volkszählung ein Grundrecht auf Datenschutz eingeführt. Offiziell heißt es „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“. Die Erfassung, Speicherung und Verwendung persönlicher Daten erfordert seitdem stets eine gesetzliche Regelung. Diese Gesetze prüft das Bundesverfassungsgericht jeweils auf ihre Verhältnismäßigkeit und beanstandet sie oft. So verlangte das BVerfG 2006, dass eine präventive Rasterfahndung, bei der Datenbestände abgeglichen werden, nur bei einer konkreten Gefahr und nicht bei einer allgemeinen Bedrohungslage genutzt werden darf.
Demokratie
Die Grundrechte auf Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit stehen seit 1949 unverändert im Grundgesetz. Sie wurden aber durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts immer wichtiger. In unzähligen Entscheidungen hat Karlsruhe die Rechte von Außenseitern und Extremisten gegen unverhältnismäßige Eingriffe geschützt. So entschied das Gericht 1995, dass die Pazifisten-Parole „Soldaten sind Mörder“ grundsätzlich nicht bestraft werden darf.
Im Staatsrecht stärkt das Bundesverfassungsgericht tendenziell das Parlament gegen die Regierung und die Opposition gegen die Mehrheit, um Offenheit und Transparenz des politischen Prozesses zu sichern.
Einwanderung
„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, heißt es seit 1949 in Artikel 20. Das Bundesverfassungsgericht versteht darunter das „deutsche Volk“ und kippte 1990 das in Hamburg und Schleswig-Holstein eingeführte Ausländerwahlrecht. Ausländer seien kein Teil des deutschen Volkes und dürften daher auch nicht wählen. Anders als Rechtsextremisten akzeptiert das BVerfG immerhin eingebürgerte Deutsche als vollwertige Mitglieder des Deutschen Volkes.
Zwei Jahre später, 1992, wurde das Grundgesetz geändert, sodass nun zumindest EU-Bürger bei deutschen Kommunalwahlen mitwählen dürfen. Dies war eine Vorgabe des EU-Rechts im Maastrichter Vertrag.
Über ein allgemeines Ausländerwahlrecht wird nicht mehr viel diskutiert, weil es deutlich leichter geworden ist, deutscher Staatsbürger zu werden. So hat der Bundestag Anfang 2024 beschlossen, dass schon nach fünf Jahren legalen Aufenthalts in Deutschland eine Einbürgerung möglich ist und dass doppelte Staatsbürgerschaften grundsätzlich akzeptiert werden.
Europa
Schon in der Präambel des Grundgesetzes von 1949 hieß es, die Deutschen wollten als „gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt dienen“.
1992 hat das Grundgesetz mit Artikel 23 ausdrückliche Europa-Regelungen erhalten. So ist für die Übertragung neuer Kompetenzen auf die EU nun eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat erforderlich.
Immer noch ungeklärt ist das Verhältnis von EU-Recht und deutschem Recht. Die EU vertritt die Position, dass EU-Recht immer Vorrang vor nationalem Recht haben müsse, weil die EU sonst nicht funktionieren würde. Das Bundesverfassungsgericht lehnt einen solchen Automatismus ab und behält sich ein Prüfungsrecht vor.
Flüchtlinge
„Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, heißt es seit 1949 im Grundgesetz. Doch 1993 wurde diese Garantie in einem neuen Artikel 16a ergänzt und faktisch abgeschafft. Auf das Grundrecht auf Asyl kann sich nicht mehr berufen, wer aus einem sicheren Drittstaat (einem anderen EU-Staat, Norwegen oder der Schweiz) einreist.
Faktisch beruht die Garantie des Asylrechts inzwischen vor allem auf EU-Recht, das aber weiter geht als das alte deutsche Grundrecht, denn im EU-Recht werden auch Bürgerkriegs-Flüchtlinge geschützt.
Frauen
„Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, heißt es seit 1949 im Grundgesetz. Doch um Chaos im Familienrecht zu vermeiden, sollte der Satz erst ab 1953 in Kraft treten. Bis 1953 hatte die konservative Adenauer-Regierung das Familienrecht aber noch nicht angepasst; der Ehemann war immer noch Oberhaupt der Familie und hatte in Erziehungsfragen das letzte Wort. Da entschied das Bundesverfassungsgericht, dass ab nun der Gleichberechtigungs-Satz des Grundgesetzes direkt anwendbar ist.
1993 wurde der Satz um die Aufforderung ergänzt: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Damit können zum Beispiel Frauenquoten bei der Einstellung gerechtfertigt werden.
Als frauenrechtlich umstritten gilt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Abtreibungsrecht. Aus der Schutzpflicht für das werdende Leben schloss das Gericht, dass eine Schwangere grundsätzlich die Pflicht hat, den Fötus auszutragen und zu gebären. Der Schwangerschaftsabbruch müsse grundsätzlich strafbar sein. 1976 und 1993 hat das Gericht deshalb Gesetze beanstandet, die Abtreibungen innerhalb bestimmter Fristen für rechtmäßig erklärten.
2024 hat sich eine Regierungskomission gegen die grundsätzliche Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten zwölf Wochen ausgesprochen. Völkerrechtlich werde die reproduktive Selbstbestimmung der Frau zunehmend anerkannt, deshalb müsse auch das Grundgesetz neu ausgelegt werden.
Haushalt und Schulden
Ursprünglich erlaubte das Grundgesetz Kreditaufnahmen nur bei „außerordentlichem Bedarf“. Mit zunehmender Ausweitung der Staatsaufgaben galt dies als zu eng. 1969 wurde deshalb im Grundgesetz eine Schuldenaufnahme bis zur Höhe der Investitionsausgaben erlaubt, bei einer Störung des gesamt-wirtschaftlichen Gleichgewichts sogar darüber hinaus.
2007 kritisierte das Bundesverfassungsgericht diese Regelung, weil sich so die ungezügelte Staatsverschuldung nicht eindämmen lasse. Bundestag und Bundesrat nahmen die Aufforderung aus Karlsruhe ernst und führten 2009 eine Schuldenbremse im Grundgesetz ein. Die Aufnahme von Schulden ist nun im Kern nur noch bei „außergewöhnlichen Notsituationen“ möglich, etwa bei einer Pandemie.
Ende 2023 legte das Bundesverfassungsgericht diese Schuldenregelung streng aus und beanstandete damit einen Trick der Ampelkoalition. Schulden können nicht mehr in Notlagen für mehrere Jahre auf Vorrat verbucht werden, vielmehr muss die Notlage in jedem Jahr neu festgestellt werden.
Angesichts des aktuell gewaltigen Finanzbedarfs für Klimaschutz, Infrastruktur und Bundeswehr wird über eine Flexibilisierung der Schuldenbremse diskutiert. Dafür spricht sich zum Beispiel der Rat der Wirtschaftsweisen aus.
Homosexualität
1957 billigte das Bundesverfassungsgericht die Strafbarkeit von Homosexualität. Dies gilt heute als eines der größten Fehlurteile des Gerichts. Die Strafbarkeit wurde dann vom Bundestag zwischen 1969 und 1994 in mehreren Etappen abgeschafft.
Auch bei der Gleichstellung homosexueller Partnerschaften war das BVerfG zunächst kein Motor der Entwicklung. Die eingetragene Partnerschaft wurde 2000 von der rot-grünen Koalition eingeführt. Dagegen klagten die Länder Bayern, Sachsen und Thüringen. Das BVerfG lehnte die Klage 2002 ab – mit knappen fünf zu drei Richterstimmen. Der Schutz von Ehe und Familie sei nicht beeinträchtigt.
Erst ab 2009 forderte das Bundesverfassungsgericht die Gleichbehandlung von gleichgeschlechtlichen Paaren zum Beispiel im Steuerrecht. Die „Ehe für alle“ führte der Bundestag 2017 ohne Aufforderung aus Karlsruhe ein. Nun klagte auch niemand mehr dagegen.
Militär
Als das Grundgesetz 1949 entstand, war Deutschland entmilitarisiert, hatte keine Armee. Jahrelang wurde politisch über eine Wiederbewaffnung diskutiert. Erst 1955 wurde die Bundeswehr gegründet und die Bundesrepublik in die Nato aufgenommen. Im Grundgesetz wurde dies 1956 nachvollzogen. „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf“, heißt es jetzt in Artikel 87a.
Ebenfalls sehr umstritten waren 1969 die sogenannten Notstandsgesetze. Im Grundgesetz ist jetzt auch der Einsatz der Bundeswehr im Inland erlaubt, unter anderem zur Bekämpfung militärisch bewaffneter Aufständischer.
Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks billigte das Bundesverfassungsgericht 1994 eine neue Rolle der Bundeswehr. Diese kann bei Auslandseinsätzen zur Friedenssicherung eingesetzt werden. Karlsruhe stellt aber zwei Bedingungen auf: Zum einen muss der Einsatz von UNO oder Nato getragen sein; Alleingänge der Bundeswehr sind nicht zulässig. Außerdem muss der Bundestag Auslandseinsätzen der Bundeswehr stets vorab zustimmen.
Sozialstaat
Anders als sozialistische Verfassungen kennt das Grundgesetz keine sozialen Grundrechte, wie das Recht auf Arbeit oder das Recht auf eine Wohnung. Immerhin ist Deutschland in Artikel 20 als Sozialstaat definiert. Dies ist aber nur eine nicht einklagbare Staatszielbestimmung.
2010 hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Hartz-IV-Urteil das „Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum“ entwickelt. Die Höhe hat das Gericht aber nicht festgesetzt, sondern nur ein nachvollziehbares Verfahren gefordert. 2012 hat das BVerfG das Asylbewerberleistungsgesetz als „evident unzureichend“ beanstandet und eine starke Erhöhung der Leistungen gefordert.
2019 hat das BVerfG die Hartz-IV-Sanktionen beanstandet. Als Reaktion auf Pflichtverletzungen dürfen die Leistungen nur maximal um 30 Prozent gekürzt werden, so die Richter. Eine Streichung sei nur zulässig, wenn die Aufnahme zumutbarer Arbeit verweigert wird.
Umwelt
1949 war Umweltschutz noch kein Thema. Nach langen Diskussionen wurde erst 1994 der „Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen“ mit einem neuen Artikel 20a als nicht einklagbares Staatsziel ins Grundgesetz aufgenommen. Praktische Bedeutung hatte dies nicht.
Welche Wirkung der Klima-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2021 im Ergebnis haben wird, ist noch offen. Die Richter forderten nur eine Fortschreibung der Klimaschutzziele – die Umfänge der CO2-Reduktionen – ab 2030. Sie erhoben aber Klimaschutz zum Staatsziel, wiesen Deutschland ein begrenztes CO2-Budget zu und erleichterten weitere Klimaklagen.
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