68er-Proteste in Polen: Alles Zionisten
Antisemitismus war in Polen ein Rezept gegen die Krise des Kommunismus. Die Juden wurden aus dem Land gejagt. Einer kehrt Jahre später zurück.
Blau ist das Reisedokument, das sich Polens Juden 1968 bei den Behörden abholen müssen. Es berechtigt sie zur Ausreise. Beim Überschreiten der Staatsgrenze verlieren sie aber zugleich die Staatsbürgerschaft. Michał Sobelman besitzt die als Pass getarnte Ausbürgerungsurkunde bis heute. Anders als die meisten der rund 13.000 polnischen Juden, die Ende der 1960er Jahre ihre Heimat verlassen müssen, ziehen Sobelman und sein Vater nicht in die USA, nach Kanada, Schweden oder Großbritannien, sondern nach Israel. Sobelman ist damals 16. „Wir reisten aus, weil Polen das einzige Land war, in dem wir weder Juden noch Polen sein durften“, sagt er.
Heute ist Michał Sobelman 65 und Presseattaché der israelischen Botschaft in Warschau. „Dennoch kann man nicht von einer ‚Rückkehr‘ im vollen Wortsinne sprechen“, sagt er. „Denn ich bin heute vor allem ein Israeli.“ Nach dem Militärdienst studiert er Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem, anschließend arbeitet er in der Holocaustgedenkstätte Yad Vashem.
„Ich fing relativ spät an, mich für mein Judentum und die Geschichte meiner Familie zu interessieren“, sagt er. Nach dem Tod seines Vater 1983 findet er im Nachlass ein Foto mit einem Datum auf der Rückseite: 23. Juni 1943. Die lächelnde und gut aussehende junge Frau neben seinem Vater war dessen erste Ehefrau, erfährt Sobelman. Sie ist wenig später in den Gaskammern von Auschwitz gestorben, ebenso wie die Eltern des Vaters und dessen Geschwister. Er selbst überlebte nur, weil ein Deutscher ihn und sechs andere Juden als „kriegswichtige Arbeiter“ in seiner Firma beschäftigte.
„Die fünfte Kolonne“
„1968 hatte ich davon keine Ahnung“, sagt Sobelman. „Ich war 15 und zum ersten Mal verliebt.“ Dabei braut sich damals für Polens Juden etwas Ungutes zusammen. Schon im Juni 1967, als die meisten Ostblockländer nach dem Sechstagekrieg die diplomatischen Beziehungen zu Israel abbrachen, hat der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Polens Władysław Gomułka eine erste antisemitische Rede gehalten. „Er bezeichnete uns als fünfte Kolonne und stellte unsere Loyalität infrage“, so Sobelman.
Trotz der Erfolgspropaganda nimmt die Wirtschaftsmisere zu, die Lebensmittelpreise steigen – und es kommt zu ersten Streiks. In der Parteiführung beginnt ein Konkurrenzkampf zwischen Gomułka und dem Innenminister Moczar. Zwar verständigen sie sich auf ein gemeinsames Konzept – die Schaffung eines polnischen Sozialismus mit patriotisch-nationalistischem Einschlag –, doch im Machtgerangel will der eine antisemitscher sein als der andere. Zu den gefährlichsten äußeren Feinden erklärt die Parteipropaganda Westdeutschland und Israel, im Innern sind es „die Zionisten“, die als angebliche Handlanger der „imperialistischen Mächte“ bekämpft werden müssten. Zugleich müssen Polens Juden als Alleinschuldige für die Verbrechen der polnischen Stalinisten herhalten.
1968 – Die globale Revolte
„Dass die Partei Ende Januar 1968 das Theaterstück ‚Die Totenfeier‘ von Adam Mickiewicz in Warschau absetzen ließ, es danach zu Protesten kam und im März die ersten Studenten verhaftet wurden, erfuhren wir in Schlesien mit einem gewissen Zeitverzug“, sagt Sobelman.
Die antisemitische Hetze in den Staatsmedien und auf „spontanen Arbeiterkundgebungen“ erfasst das ganze Land. Am 19. März 1968 hält Gomułka vor 3.000 Parteiaktivisten im Warschauer Kulturpalast eine antisemitische Hetzrede, die live übertragen wird. „Diese Rede hat unser Leben erschüttert. Es war plötzlich klar, dass es für uns keinen Platz mehr in Polen gab.“
Von den 3,5 Millionen Juden im Vorkriegspolen überlebten nur 300.000 den Holocaust. Heute leben in Polen rund 5.000 bis 20.000 Juden.
Von den 1968er-Emigranten kehrte kaum jemand zurück.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Krieg in der Ukraine
Russland droht mit „schärfsten Reaktionen“
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken