60 Jahre Pille: Der ferngesteuerte Körper der Frau
Seit 1960 nehmen Frauen die Pille. Zur Verhütung. Gegen Schmerzen. Für schöne Haut. Viele setzen sie wieder ab. Drei Protokolle.
Es war eine kleine Revolution. Doch weder wurde sie vor 60 Jahren öffentlich so wahrgenommen, noch ist sie heute als solche im kollektiven Gedächtnis verankert: Am 21. August 1960 kam in den USA die Antibabypille auf den Markt. Im Jahr darauf folgte die Bundesrepublik, in der DDR war die Pille ab 1965 erhältlich.
Was zunächst verdruckst als Mittel gegen Regelbeschwerden beworben wurde, war ein Weg, die Fortpflanzung in die eigene Hand zu nehmen. Denn zu reproduktiver Selbstbestimmung gehört auch die Entscheidung darüber, ob man überhaupt schwanger werden will – oder eben nicht.
Gleichzeitig war und ist die Pille eine Hormonbombe. Die frühen Präparate erhöhten das Risiko für Brustkrebs, heute steht sie wegen erhöhten Thromboserisikos in Verruf. Millionen haben seit ihrer Einführung mit der Pille verhütet. Doch das ändert sich: Nach Angaben des AOK Bundesverbands nahmen 2019 nur noch 31 Prozent der gesetzlich versicherten Frauen und Mädchen die Pille – zehn Jahre vorher waren es 46 Prozent.
Was also ist die Pille: der Schlüssel zur Selbstbestimmung? Oder zementiert sie doch nur, dass für Verhütung mitsamt allen Nebenwirkungen eben die zuständig sind, die schwanger werden können? Anwenderinnen erzählen von ihren Erfahrungen aus mehreren Generationen – mal ganz euphorisch, mal sehr kritisch.
Antonia, 30, ist Projektmitarbeiterin in der Erwachsenenbildung, Leipzig
„Ich habe mit 16 angefangen, die Pille zu nehmen, um meine Periode regelmäßiger zu haben und um bessere Haut zu bekommen. Aus heutiger Perspektive sind das vielleicht komische Gründe, um sich jeden Tag Hormone einzuschmeißen. Aber als ich Teenager war, haben das eigentlich alle gemacht. Ich fand es praktisch und erinnere mich, dass meine Pille als eine Art „Einsteiger-Pille“ für junge Mädchen in einer türkisenen Packung verkauft wurde. Als ich dann irgendwann einen festen Freund hatte, kam die Sache mit der Verhütung noch dazu.
Langfristig war das schon der ausschlaggebende Punkt. Als ich nach dem Abi eineinhalb Jahre in Nicaragua und den USA war, habe ich die Pille abgesetzt – so nach dem Motto, ich bin sowieso treu und monogam und habe keinen Sex. Ich habe dann aber total zugenommen, und meine Haut wurde auch schlechter, was ich zumindest damals auch darauf geschoben habe, dass ich die Pille nicht mehr nehme. Keine Ahnung, ob das so war, sicher lag es auch an wenig Sport und anderer Ernährung.
Die Pille zu nehmen war bei mir sehr damit verbunden, feste Partnerschaften und Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft zu haben. Ungewollt schwanger bin ich leider trotzdem geworden – in einer festen Partnerschaft. Mein damaliger Freund hatte behauptet, er sei unfruchtbar, und ich hatte mich darauf verlassen. Ich hatte einen Abbruch, und wir waren dann auch nicht mehr lange zusammen. Das war echt furchtbar.
Danach habe ich eigentlich immer auf zwei Methoden gleichzeitig gesetzt, anfangs vor allem auf Pille und Kondom. Aber als ich sie länger nicht genommen und dann wieder damit angefangen hatte, habe ich mich auf einmal gefühlt wie ein Hormonmonster. Ich war total schnell ungehalten und musste noch viel schneller heulen. Ich habe mich verändert gefühlt und irgendwie ferngesteuert. Und das offenbar, weil ich mir jeden Tag eine Tablette eingeworfen habe. Das war es mir irgendwann nicht mehr wert.
Ich habe dann zum ersten Mal meinen Zyklus wahrgenommen. Ich hatte mich bis dahin gar nicht so richtig damit beschäftigt, was in meinem Körper eigentlich passiert. Spüre ich den Eisprung? Was verändert sich in der Schleimstruktur? Habe ich PMS? Wie ist das, wenn der Zyklus mal länger, mal kürzer ist? Und an welchem Punkt des Zyklus befinde ich mich gerade? Solche Dinge merkt man mit der Pille nicht.
Andere längerfristige Verhütungsmethoden waren lange nicht so präsent. Ich wusste zwar, dass zum Beispiel Freundinnen meiner Mutter die Spirale hatten. Aber erstens hatte ich Angst, dass die einwachsen und das schmerzhaft werden könnte, es gab so Horrorstorys. Und zweitens hieß es, das sei eher was für ältere Frauen. Irgendwann aber gab es zunehmend Frauen in meinem Umfeld, die andere Methoden nutzten. Mit Mitte 20 habe ich mir eine Kupferkette einsetzen lassen.
Dass ich mit meinen jeweiligen Partnern über Verhütung gesprochen habe, kam erst mit der Zeit. Meine ersten Partner gingen davon aus, dass ich die Pille nehmen würde. Finanziell beteiligt haben sie sich nie, eingefordert habe ich es auch nicht. Ich habe das als meine Verantwortung gesehen, auch weil Schwangerschaften in meinem Körper passieren. Ich bin in einem Frauenhaushalt aufgewachsen – da war Frausein und die Verantwortung, Kraft und Last, die damit einhergehen, früh Thema.
Ich finde schon, dass die Pille eine Errungenschaft ist. Dass Frauen selbst über ihren Körper bestimmen können, sich vor ungewollten Schwangerschaften eigenverantwortlich schützen können, und das in der Praxis eigentlich sehr unkompliziert funktioniert. Ich kenne kein Verhütungsmittel, das völlig frei von Ambivalenzen ist. Mit der Kupferkette zum Beispiel hatte ich auch Nebenwirkungen: meine Regel war viel stärker, ich hatte stärkere Schmerzen. Irgendeinen Tod muss frau da offenbar sterben.
Trotzdem habe ich den Eindruck, dass es heute mehr Alternativen zur Pille gibt. Es wird auch öffentlicher darüber gesprochen, dass Frauen einen Zyklus haben und bluten. Ich hätte die Pille für eine ganze Weile nicht missen wollen. Ich würde sie heute aber trotzdem nicht mehr nehmen.“
Protokoll: Patricia Hecht
Marina Lentz, 82 Jahre alt, hat über 30 Jahre die Eheberatungsstelle in Karlsruhe geleitet und danach als tiefenpsychologische Therapeutin und Analytikerin gearbeitet. Sie betreut noch heute einige Patient*innen
„Als die Pille damals auf den Markt kam, haben die Frauen die Familienplanung in die eigene Hand genommen. Wir haben damals im Freundinnenkreis aber gar nicht so besonders viel darüber geredet. Wir waren Mitte 20, und natürlich hatten wir schon unser Liebesleben. Aber in meiner Generation wurde vor der Pille teils sehr abenteuerlich oder auch gar nicht verhütet.
Man wusste ungefähr, wann die fruchtbaren Tage waren, man hat Temperatur gemessen, wer seinen Eisprung spüren konnte, war gut dran. Wenn ich das jetzt so erzähle, kommt es mir vor wie in grauen Vorzeiten – dabei ist es ja noch gar nicht so lange her. Coitus interruptus gab es wohl auch, aber das waren eher vorsichtige, zurückhaltende Männer. Kondome? Das wollten die Männer meist nicht. Wer doch schwanger wurde, musste zusehen, irgendwie einen Arzt zu finden, der „das wegmacht“, wie man damals sagte. Da musste man wirklich auf den Knien rumrutschen, die Ärzte durften das ja auch nicht.
Für mich war die Pille am Anfang meiner Ehe keine Option. Ich hatte früher schon eine Spirale, außerdem war ich mit einem Mann verheiratet, mit dem ich Kinder wollte. Ende der 60er Jahre habe ich dann mit der Pille angefangen.
Wir waren damals für zwei Jahre in den USA und hatten schon einen Sohn, und ich dachte mir: Mit dem Mann möchtest du keine weiteren Kinder. Aber irgendwas ging schief, als ich nach Deutschland zurückkam, war ich doch wieder schwanger. Ich dachte: Das kann doch wohl nicht sein. Aber es war so. Mein zweiter Sohn wurde geboren, und das war auch alles gut und richtig.
Aber unsere Ehe war zerrüttet. Früher hatten wir beiden ähnliche Vorstellungen, wir waren beide politisch interessiert und SPD-nah, waren aus der DDR in den Westen gekommen. Im Alltag hat sich das dann völlig auseinanderentwickelt. Er strebte sozusagen „dem Nobelpreis entgegen“, wollte Karriere machen. Ich interessierte mich für Psychologie. Das Gemeinsame war zu wenig. Unsere Ehe ging auseinander, das war mir auch ganz recht, und ich habe weiter mit der Pille verhütet und es nie bereut.
Vielen meiner Freundinnen erging es ähnlich in ihren Ehen. Wir lebten in einem neuen Viertel von Karlsruhe, der Waldstadt, die zwischen den Hochschulen entstanden war. Wir waren alles Akademikerinnen und Akademiker, wir waren die 68er-Generation, die sich selbst verwirklichen und alte Vorstellungen von Scham und Prüderie über Bord werfen wollte. So waren die Vorstellungen.
In der Realität haben dann aber die Männer Karriere gemacht, und die Frauen saßen auf dem Spielplatz. Und während die Kinder gebuddelt oder sich mit den Schäufelchen auf den Kopf gehauen haben, redeten die Frauen darüber, wie unbefriedigend ihre Situation war. Wir reden hier über Ehen mit zwei oder drei Kindern. In diesen Jahren knallten die Ehen alle; die Frauen wollten das so einfach nicht. Die waren in diesen Ehen unterentwickelt.
Wir haben, wie gesagt, nie viel darüber gesprochen, wer die Pille nimmt und wer nicht – aber viele haben aufgehört, Kinder zu bekommen. Na, warum wohl?
Es gab damals wirklich harte Fronten mit der Pille – entweder man war dafür oder dagegen. Das war ein bisschen wie die Trennung evangelisch/katholisch, eine echte Glaubenssache. Ich kann mich erinnern, für die Leiterin der Pro Familia Karlsruhe damals war die Pille wegen all der Hormone Teufelszeug. Auch bei den Ärztinnen gab es solche und solche. Für mich war aber ganz klar, dass ich die Pille haben wollte.
Wenn eine Ärztin gegen die Pille war, dann bin ich woandershin gewechselt. Aus meiner Sicht war die Pille für Frauen, die keinen Brustkrebs oder so in der Familie hatten, das Mittel der Wahl. So sehe ich das auch heute noch.
Ich hatte keine Angst vor den Nebenwirkungen, viel eher fand ich die positive Wirkung der Hormone gut. Nichts tat weh, anders als bei der Spirale, die auch mal schlecht saß und zurechtgerückt werden musste, und die Haut wurde schön glatt. Du bist nicht abhängig vom Arzt, musst sie nur regelmäßig nehmen. Und keiner redet dir rein.“ Protokoll: Dinah Riese
Laura*, 29 Jahre alt
„Wäre ich einen Tag später in die Praxis gegangen, wäre ich erstickt. So haben es mir die Ärzte damals gesagt. Ich war 23, steckte mitten in meinem dritten Studienjahr in Mannheim – und hatte eine Lungenembolie. Schon in den Tagen zuvor hatte ich Probleme beim Atmen. Treppen laufen wurde immer anstrengender, und selbst kleine Bewegungen fühlten sich auf einmal so an, als wäre ich gerade vom Joggen gekommen. Sorgen habe ich mir erst einmal nicht gemacht, ich war ja jung und gesund. Und dass das Ganze mit der Antibabypille zu tun haben könnte, kam mir damals gar nicht in den Sinn.
Ich bin also trotzdem ins Fitnessstudio gegangen. Doch als ich wieder zu Hause war, habe ich gemerkt, dass ich wirklich schlecht Luft bekomme, Schmerzen im Brustkorb habe und das nichts mehr mit dem Sport zu tun haben kann. Ich habe dann meinen Onkel angerufen, der Arzt ist, und er meinte, ich müsste sofort zum Radiologen, um ein CT meiner Lunge machen zu lassen.
Auf der Aufnahme hat man dann gesehen, dass meine beiden Lungenflügel von einer Embolie betroffen waren und ich wurde sofort in einen Rollstuhl gesetzt, denn jede Bewegung gefährdete mein Leben. Meine Eltern haben mich aus der Praxis abgeholt und ins Krankenhaus gefahren. Dort lag ich dann fünf Tage lang auf der Überwachungsstation, musste Blutverdünner nehmen und durfte mich nicht bewegen.
Eine Lungenembolie ist eine Art Verschluss der Lungenarterien, der durch eingeschwemmte Blutgerinnsel entsteht. Bei mir kam die Embolie dadurch, dass ich an beiden Beinen eine tiefe Beinvenenthrombose hatte, die dann durch meinen Körper gewandert ist. Für Thrombosen gibt es verschiedene Ursachen: Rauchen, Fettleibigkeit, genetische Veranlagung oder wenn man die Antibabypille nimmt.
Durch Befragungen und Untersuchungen konnte bei mir alles ausgeschlossen werden: Ich war eine junge, gesunde, normalgewichtige Nichtraucherin ohne genetische Veranlagung und hatte außer der Antibabypille keine Medikamente eingenommen. Also haben die Ärzte bei mir die Pille als Ursache bestimmt, auch weil ich nicht ihr erster Fall war.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Mit 15 Jahren hatte ich angefangen, die Pille zu nehmen. Es gab vor mir schon einige Frauen, die durch meine Pillensorte eine Thrombose bekommen haben. Das liegt am Drospirenon, einem synthetisch hergestellten Gestagen, das das Thromboserisiko erheblich erhöht. Doch das habe ich alles erst nach meiner Krankheit erfahren, als ich es gegoogelt habe.
Man wird zwar in der Packungsbeilage auf die möglichen Gefahren hingewiesen, aber wer liest schon das ganze Kleingedruckte durch? Ob meine Gynäkologin mich damals auf die Nebenwirkungen und Risiken hingewiesen hat, weiß ich nicht mehr, doch mir war auf jeden Fall zu keinem Zeitpunkt bewusst, wie gefährlich es sein kann, die Antibabypille zu nehmen.
Nach meinem Krankenhausaufenthalt musste ich noch ein Jahr lang Xarelto, einen Blutverdünner, nehmen und täglich Thrombosestrümpfe tragen. Die gingen von den Zehen bis zur Hüfte und gerade im Sommer war das ziemlich unangenehm. Ich habe jetzt zum Glück keine Spätfolgen mehr, aber würde es auch nie wieder riskieren wollen.
Als ich kurze Zeit später bei einer Frauenärztin war, wollte sie mir wieder die Pille als Verhütungsmittel verschreiben – lediglich mit einem niedrigeren Gestagenwert. Es hat mich ziemlich geschockt, dass sie mir das nach meiner Lungenembolie noch einmal zumuten wollte.
Klar, die Pille ist ein sicherer Weg, um zu verhüten, und ich hatte in den acht Jahren auch keinerlei Nebenwirkungen bemerkt. Aber als ich dann gemerkt habe, was diese kleinen, täglich eingenommenen Tabletten mit mir und meinem Körper anrichten können, wollte ich keine Medikamente mehr zur Verhütung nehmen.
Ich weiß nicht, ob sich meine Ansichten dazu noch mal ändern werden, aber momentan würde ich nicht mehr hormonell verhüten. Vielleicht könnte die Spirale eine Lösung sein, aber dieses Mal würde ich mich detailliert informieren und mir speziell die Risiken ganz genau angucken. Und ehrlich gesagt sehe ich es auch nicht ein, dass wir Frauen uns die ganze Zeit irgendwelche Hormone zufügen sollen, wenn es doch auch Alternativen wie Kondome gibt.“
Protokoll: Carolina Schwarz
*Laura ist der Redaktion bekannt, sie wollte aus persönlichen Gründen anonym bleiben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“