50. Deutscher Historikertag: Besprecht das Unsagbare
Auf ihrem Kongress nehmen sich die Historiker erstmals der Geschichte des Homosexuellen an – und bleiben dabei hinter den Möglichkeiten zurück.
Seltsam, dass Kritik am Bundespräsidenten so oft in ästhetischer Hinsicht geübt wird. Dass er etwa, wie Dienstag zur Eröffnung des 50. Historikertags in Göttingen, allzu pastoral gesprochen habe. Kommt wohl auf die Hörweise an: Tatsächlich kann er reden, muss es auch, entscheiden hingegen kann er nichts. Gauck also verlor auch einige Worte über die Freiheit als Kernbedingung einer guten Gesellschaft in der Göttinger Lokhalle.
Aber kein kritisches Wort fand sich hernach darüber, dass in dem, was er den HistorikerInnen zu sagen hatte, doch einiges fehlte. „Alles, was wir so sehr genießen, Frieden, Freiheit, Wohlstand – was Menschen in vielen Teilen der Welt bitter fehlt – ist das mühsam genug erreichte Werk von Menschen“, sprach Gauck. Und, so lautete seine Botschaft: „Die Zukunft kommt nicht von selbst.“
Davon abgesehen, dass dies das Selbstverständliche meinte, konnten seine Worte natürlich auch wie ein Appell an die Historiker verstanden werden, sich in Forschung und Lehre für ein Gutes einzusetzen – das aber hätte die bis weit in die sechziger Jahre hinein national, gesinnungsethisch orientierte Historiografie gern gehört: Geschichtswissenschaft als Begleitmusik, als Begründungsberatung zum politisch Gegebenen. Heute ist das nicht mehr möglich: Historiker müssen darauf bestehen, den Quellen das Sachliche zu entnehmen, unabhängig davon, wem es nützt.
Denn was vermisst werden musste, war ja, dass Gauck den Begriff der Freiheit – zumal beim Motto des Historikertags, „Sieger und Verlierer“ – nicht besonders bunt auspinselte. Die Bundesrepublik ist nicht allein deshalb ein besseres Deutschland als alle zuvor, weil sie – bei allen Gerechtigkeitswünschen – keinen Krieg anzettelte, sondern weil das Land so plural, so vielschichtig, so divers ist wie niemals zuvor.
Ein bunteres Land
Sogar im Programm des Historikertags spiegelt sich das inzwischen: Sektionen zur Migrationsgeschichte in Deutschland, zur Geschlechtergeschichte etwa oder zum durch die Historikerin Ute Frevert am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin angesiedelten Schwerpunkt Emotionsgeschichte: Das Gewöhnliche, wenn man so will, im Leben aller Teile der Gesellschaft kommt zum Vorschein, und dieses könnte sogar noch ausgebaut werden.
Erstmals gab es eine eigene Sektion zu Schwulen und (nur von Maria Borowski aus Berlin repräsentiert) Lesben: „Von Verlierern der Moderne zu Gewinnern der Post-Moderne?“ lautete die Fragestellung. Rüdiger Lautmann, einst Professor an der Universität Bremen und seit Mitte der siebziger Jahre versuchend, als Soziologe Homosexualitäten in die historischen Fachdiskurse zu bringen, war leider verhindert. Aber immerhin hat sich das Münchener Institut für Zeitgeschichte durch Michael Schwartz des Themas angenommen.
Tatsächlich ist ja der Diskurs zum Thema – darauf verwies der Geschichtsdidaktiker Martin Lücke von der Freien Universität Berlin – ein überwiegend heterosexueller im 20. Jahrhundert geblieben. Lücke bürstete die übliche Annahme, die Weimarer Republik habe Homosexuellen jede Menge Freiheiten geschaffen, kräftig gegen den Strich.
In Wahrheit sei auch die Zeit zwischen Erstem Weltkrieg und völkischer Selbstermächtigung eine gesetzlich und atmosphärisch unumstritten homophobe gewesen. Norman Domeier von der Universität Stuttgart beleuchtete die Harden-Eulenburg-Affäre Anfang des 20. Jahrhunderts, als alle bürgerliche Welt in Deutschland plötzlich glaubte, der Kaiser sei umstellt von einer homosexuellen Seilschaft: Es sei auch der quasioffizielle Auftakt homophober Diskurse gewesen.
Schwules blieb geächtet
Michael Schwartz selbst beleuchtete das Ende der sechziger Jahre, als die Nazifassung des Paragrafen 175 (komplettes Verbot von Homosexualität, Pönalisierung schon bei Verdacht durch Blicke etc.) endlich fiel: Auch die Aufhebung der Strafverfolgung bei erwachsenen Männern (Lesben waren nicht gesetzlich verfolgt) sei nicht aus dem politischen Begehr der Entnazifizierung beschlossen worden, sondern weil das Verbot nicht mehr nötig war: Klimatisch geächtet blieb Schwules (und Lesbisches) ohnehin.
Maria Borowski beleuchtete die Entwicklung des Lesbischen und Schwulen in der DDR nach 1949: Die Arbeiter-und-Bauern-Republik war auch kein queeres Paradies, aber wenigstens gab es, anders als in der BRD, so gut wie keine ausgrenzende Hetze gegen Homosexuelle. Rainer Nicolaysen von der Universität Hamburg erörterte ein vergangenheitspolitisches Problem, das er am Beispiel von Depromotionen, also dem Entzug von Doktorgraden, illustrierte. In der NS-Zeit wurde den nach Paragraf 175 Verurteilten auch der Doktortitel entzogen: Sie seien des Titels „unwürdig“, hieß es damals, weil ein deutscher Doktor nicht homosexuell sein dürfe.
Die Pointe ist freilich, dass diese Entwürdigten im Zuge der späten Rehabilitierung seit den neunziger Jahren – anders als die „rassisch und politisch Verfolgten“ – nicht berücksichtigt wurden. Womöglich seien sie ja wirklich als Homosexuelle kriminell gewesen. Eine Haltung, die auch im liberalen, sozialdemokratischen und linken Milieu gepflegt wurde. Nicolaysen schlug vor, endlich auch allen nach Paragraf 175 Verurteilten ihren Doktortitel wieder zurückzugeben – auch wenn dies heute nur noch ein symbolischer Akt sein kann. Es gibt, so ließe sich die Sektion bündeln, auf diesem Feld noch reichlich Forschung zu betreiben und Erkenntnis zu gewinnen. Denn die Sache selbst, das Sexuelle, findet ja in keinem anderen Bereich Beachtung.
Missachtung des Sexuellen
Die Kategorie des Sexuellen spielt in der Fragematrix – sei es zur europäischen Geschichte, im aktuellen Konflikt um Russland oder eben zur NS- und frühen Bundesrepublik- und DDR-Geschichte – überhaupt keine Rolle. Sie ist wohl immer noch allzu schmutzig, allein schon wegen der Quellen, die zu bergen wären. Andererseits: Spielt das Sexuelle nicht in allen Kontexten wenigstens subtil eine stiftende oder giftende, jedenfalls tragende Rolle?
Nun ließe sich, wir sind ja beim Historikertag, sagen: Was soll die breitwandige Erwähnung eines Homoaspekts? War nicht sprechend genug, dass das Interesse an dieser Sektion nicht unerfreulich war, aber doch begrenzt blieb? Gäbe es nicht viel zu erzählen von den Heroen, den Großhistorikern, von großen Erzählentwürfen für alle Menschen, nicht nur von solchen, die explizit nicht heterosexuelle Menschen betreffen? Müsste man nicht doch darauf hinweisen: alles Krümel, oder was?
Ja, so lässt sich das wohl empfinden. Womit man wieder beim Bundespräsidenten Gauck wäre und seinem Talent, deutlich zu sprechen. Weshalb hat er in seiner Ansprache, es ging ja um Freiheit, nicht zum Beispiel stolz und souverän gegen die vielen Putinversteher gesprochen und davon, wie sehr zu einer guten Gesellschaft das Diverse, das Bunte, das Andere, ja auch das zunächst Fremde gehört? Das wäre den Völkischen in Russland gegenüber doch mal ein Signum gewesen: Seht her – wir definieren Freiheit als Möglichkeit zum Eigensinn!
Und was hätte ihn das gekostet, explizit gerade auch die von Schwulen und Lesben erkämpften bürgerlichen und atmosphärischen Freiheiten zu benennen? Und die Kunst der Integration von Migranten, seien sie muslimisch geprägt oder nicht? Und überhaupt: Warum schätzt man offiziös nach wie vor die Kämpfe von Minoritäten nicht – und weshalb kommt, wie es im schwul-lesbischen Bereich hieß, das Unsagbare (nicht drüber sprechen, es muss diskret bleiben) nicht endlich auch in der sogenannte Mitte repräsentativ zum Ton und Bekenntnis?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen