300. Geburtstag Immanuel Kants: Maximen, maximal
Vor 300 Jahren wurde der Philosoph Immanuel Kant geboren. Gründe zum Gratulieren gibt es nach wie vor.
Soll man Kant heute noch lesen? Diese Frage will dieser Text eigentlich gar nicht beantworten. Er wird sowieso weiter gelesen, und das mit Gewinn. Dass er heute zum Teil aus anderen Gründen kontrovers betrachtet wird als zu Lebzeiten, gehört dazu.
Potenziell an der Lektüre Interessierte muss man grundsätzlich warnen. Immanuel Kant macht es einem mit seinen Schriften erfahrungsgemäß schwer. Wie der Philosoph Jens Timmermann seiner Neuausgabe von Kants „Kritik der reinen Vernunft“ im Meiner Verlag, die dieses Jahr anlassgerecht in einer Jubiläumsausgabe erscheint, vorausschickt: „Kants Texte, die schon seine Zeitgenossen befremdeten und von denen uns mehr als 200 Jahre trennen, bleiben in jedem Falle gewöhnungsbedürftig.“ Auf dessen verschachtelten Stil verweist er mit der ironischen Bemerkung: „Unsere Sätze sind im Durchschnitt kürzer als die Kantischen.“
Hinzu kommt ein für Philosophen typischer Sprachgebrauch, mit Begriffen, die Kant in der ihm eigenen umständlichen, auf Gründlichkeit bedachten Weise einführt. Am bekanntesten ist die von ihm begründete „Transzendentalphilosophie“, deren Großprojekt er mit seinem ersten Hauptwerk, der „Kritik der reinen Vernunft“, beginnt.
Es gibt mindestens zwei Kants
Kant gilt als spröde. Der Philosoph Arthur Schopenhauer bescheinigte ihm etwa eine „glänzende Trockenheit“. Dabei gibt es im Grunde mindestens zwei Kants. Am 22. April 1724 wird er in Königsberg in einfache Verhältnisse geboren, sein Vater war Riemermeister, ein Handwerk des lederverarbeitenden Gewerbes, die pietistisch geprägten Eltern fördern seine Erziehung. Erst Schule, dann Universität.
Nach einer Zeit als Hauslehrer wird Kant Privatdozent. Der selbstbewusste junge Akademiker ist gesellschaftlich, wenn auch nicht finanziell, erfolgreich, in seinen Vorlesungen herrscht, so ein zeitgenössischer Bericht, „freyer Discours, mit Witz und Laune gewürzt“. Verschiedene Versuche, in Königsberg Professor zu werden, scheitern zunächst. Bis er 1770, nach diversen Rufen an andere Universitäten, die er alle ablehnt, in Königsberg die Professur für Logik und Metaphysik erhält.
Es folgen die sogenannte „kopernikanische Wende“ und ein immenses Arbeitsprogramm, weshalb Kant sich aus dem gesellschaftlichen Leben weitgehend zurückzieht und sehr strikte Alltagsroutinen einführt. Bloß mittags lädt er zu Tischgesellschaften in sein Haus, zu seiner einzigen Mahlzeit am Tag. Alles mit dem Ziel, sein philosophisches Werk, dessen Stationen er schon weit im Voraus plant, zu vollenden. Diesem veränderten Lebensstil verdankt sich in erster Linie das Bild eines preußischen Pedanten.
Philosophie ohne „bullshit“
Bei Kant unterscheidet man zwischen „vorkritischen“ und „kritischen“ Schriften. Die Hauptwerke aus der zweiten Phase sind die drei „Kritiken“: die erkenntnistheoretische „Kritik der reinen Vernunft“, die „Kritik der praktischen Vernunft“ zur Ethik und die „Kritik der Urteilskraft“, sein ästhetisches Hauptwerk. „Kritik“ bezeichnet bei Kant einerseits das gebräuchliche Beanstanden von etwas, andererseits ist diese Kritik für ihn ein analytisches Verfahren, um „verworrene Erkenntnisse aufzulösen“, sie charakterisiert mithin seine philosophische Methode.
Mit seinem philosophischen Projekt wollte Kant damals zwischen dem „französischen“ Rationalismus der Aufklärung und dem „britischen“ Empirismus vermitteln. Wo die Rationalisten Wissen als das bloße Resultat reinen Denkens betrachteten, stammte für die Empiristen alle Erkenntnis aus Erfahrung. Kant widersprach beiden Positionen und verband sie dabei in einer Weise, dass reines Denken einerseits bei ihm zur Voraussetzung wird, um Erfahrung zu bewerten. Ohne Letztere kann laut Kant andererseits aber auch kein Wissen zustandekommen.
Seine Transzendentalphilosophie setzt sich daher zum Ziel, die „Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis“ zu bestimmen. Seine Leitfrage ist: „Was kann ich wissen?“ Kant lotet so die Grenzen der menschlichen Vernunft aus, und zwar in der Absicht, all das aus dem Gebiet der Philosophie zu verbannen, was heute unter „bullshit“ rangieren würde. Seine zeitgenössischen Leser stieß das zum Teil kräftig vor den Kopf.
Kant gegen die Neurowissenschaften
Auch wenn erkenntnistheoretische Fragen in der Philosophie nach Kant mitunter anders gestellt wurden, erinnern Philosophen regelmäßig an die Vorzüge seiner Vermessung des Erkenntnisraums.
Als in der Debatte um Willensfreiheit im Zeitalter der Neurowissenschaften die naturwissenschaftliche Position popularisiert wurde, die Hirnströme regelten alles unter sich, ohne freien Willen, verwiesen philosophische Kritiker auf Kants Position: Der hatte schon gegenüber deterministischen Modellen wie dem Spinozas, das überall in der Welt nur Kausalität und nirgendwo Freiheit am Werk sieht, die Freiheit als das Vermögen bestimmt, „eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen“, mithin spontan Kausalketten zu verursachen.
Wenn eine Wissenschaft wie die Hirnforschung ausschließlich Kausalität beobachtet, sagt das, mit Kant gesprochen, eher etwas über die Grenzen des Gegenstandsbereichs und der Methoden dieser Forschungsdisziplin aus.
Ethik als richtige „Denkungsart“
Der Ansatz von Kants Ethik ist ähnlich radikal. Mit seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ bringt er moralische Fragen auf ein neues menschliches Maß, indem er vorgegebene Ziele, auf die sich andere Ethiken vor ihm stützen, ablehnt. Weder Gottes Wille noch ein höchstes Gut, wie es in der antiken Philosophie postuliert wurde, erscheinen ihm als Kriterien für eine richtige „Denkungsart“ geeignet.
Für ihn taugt als Instanz der Ethik allein die Vernunft, die Freiheit ermöglicht. Ihre Form findet die Freiheit durch das „moralische Gesetz“, im Singular wohlgemerkt. Diese moralische Selbstverpflichtung aus Freiheit bringt er im „kategorischen Imperativ“ auf eine Formel. In der „Kritik der praktischen Vernunft“ lautet er: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“
Dieses Prinzip, bei dem es um selbstgewählte Maximen als Grundlage des Handelns geht, erfordert stets eine Prüfung, ob die Maxime für alle Menschen gültig sein könnte. Man spricht daher auch von Kants „Universalismus“. Die Maximen müssen so gewählt sein, dass jeder Mensch damit als „Zweck“ behandelt wird und nicht als „Mittel“: Jeder Mensch ist durch seine Freiheit ein Zweck „an sich“ und darf nicht als Mittel instrumentalisiert werden.
Doch obwohl sich der kategorische Imperativ als abstrakte Formel präsentiert, reicht es für Kant nicht, nur der Form nach seine Pflicht zu erfüllen. Man muss zugleich dem eigenen Willen nach „aus Pflicht“ handeln, um ethisch zu handeln. Dass sich der ehemalige SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann in seinem Prozess in Israel auf den kategorischen Imperativ berief, um seine Holocaustverbrechen zu legitimieren, ist der perfideste Fall eines Versuchs, Kants formale Ethik zu missbrauchen.
Universalismus und Rassismus
Dieser formalistische Ansatz ist zunächst von Hegel und später von anderen Philosophen kritisiert worden. Er wird jedoch wiederkehrend neu verteidigt. In den neunziger Jahren machte sich etwa der Philosoph Slavoj Žižek für den kategorischen Imperativ stark, heute verteidigen die Anhänger von Kants Universalismus ihn gegen Kritiker, die rassistische, antisemitische oder misogyne Aussagen in seinen Schriften zum Anlass nehmen zu fragen, ob Kant seine Ethik wirklich unterschiedslos für alle Menschen gedacht hat.
Kant wird dann wahlweise gegen die Strömung des „wokeism“ in Stellung gebracht oder als erster woker Philosoph gehandelt. Daraus die Konsequenz zu ziehen, Kants Ansatz für gescheitert zu erklären, ist allerdings ebenso vorschnell wie die Reaktion, es handle sich bloß um einen Widerspruch in Kants Werk.
Die Frage, die mit dieser Kritik aufgeworfen wird, stellt einen klassischen Einwand gegen Kant in einen aktuellen Zusammenhang: Sein abstrakt-universalistischer Ethik-Entwurf kann im Zweifel nicht verhindern, dass man über der allgemeinen Formel, die Kant als geistige Orientierung bietet, blind wird für Details der Wirklichkeit.
Ob sich der Universalismus als philosophisches Projekt damit als solcher erledigt hat, ist gleichwohl eine offene Frage. Ein Kommilitone aus dem Philosophiestudium brachte die Schwierigkeiten mit Kants Ethik einmal so auf den Punkt: „Kant doesn’t work in a f***ed up situation.“
Ungeachtet dessen hat Kant wichtige politische Impulse gegeben, die bis in die Gegenwart reichen: Die Charta der Vereinten Nationen von 1945 ist stark angeregt durch seine Schrift „Zum ewigen Frieden“. Deren Titel ist ironisch gemeint – Kant hatte, entgegen einem gängigen Vorurteil, feinen Witz.
Kant, sonst nicht als Aphoristiker bekannt, hat in seinem Nachlass übrigens eine Charakterisierung des philosophischen Arbeitens gegeben. Sie hat Bestand, im Guten wie im Schlechten: „Philosophische Augen sind mikroskopisch. Ihr Blick sieht genau, aber wenig, und seine Absicht ist Wahrheit.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge